Lange konnten Vater und Mutter ihrem Nesthäkchen nicht zürnen. Als Klein-Annemarie beim Gutenachtsagen gar zärtlich bat, sie doch wieder liebzuhaben, als sie ihren Ungehorsam so tief bereute, verziehen die guten Eltern ihr. Vater war es schwer genug angekommen, seinen Liebling zu strafen, aber – ein Kind muß gehorsam sein!
Auch Klaus wurde wieder in Gnaden angenommen. Er versprach, künftig keine dummen Streiche mehr zu machen. Doch dieses Versprechen pflegte er am Tage mindestens einmal abzulegen und es genau ebenso schnell wieder zu vergessen.
Als aber Mutti mit Bestimmtheit verkündete: »Wenn wir bis nächsten Sonnabend noch einmal über dich zu klagen haben, Klaus, kommst du auch am Sonntag nicht mit auf die Schneekoppe!« da nahm sich der Strick doch zusammen. Die Wanderung zur Koppe hinauf, das war für die Kinder die Hauptsache an der ganzen Reise.
Auch für Nesthäkchen kam die Koppenpartie noch zum Schwanken, beinahe hätte es zu Hause bleiben müssen.
Es war am Vormittag an einem der nächsten Tage, da suchten Fräulein und Annemarie Himbeeren im Walde. Sie hatten sich jede einen großen Topf dazu mitgenommen, denn die Beeren sollte es zum Abendbrot geben.
Bei Fräulein schaffte es besser als bei Annemarie. Das kam aber nicht daher, daß Fräulein sich schneller bückte, sondern vielmehr davon, daß die Kleine sich öfters mal irrte und eine besonders schöne Himbeere statt in den Topf in das Mündchen spazieren ließ.
Plötzlich jubelte Klein-Annemarie hell auf.
»Ach, Fräulein, die vielen, vielen Himbeeren hier oben, alles rot, au fein, da werde ich bald mehr haben als du! Bitte, bleibe unten und laß mir allein diese Stelle!« bat sie ihr tiefer unten suchendes Fräulein.
Fräulein tat der Kleinen den Gefallen und ließ ihr die reiche Ausbeute der oberen Himbeersträucher. Nur einmal, als sie zu bemerken glaubte, daß sich Annemaries geblümtes Bauernkleidchen immer mehr entfernte, rief sie ihr warnend zu: »Kind – Annemiechen, gehst du auch nicht zu weit?«
»Nein – nein«, klang es beruhigend zurück.
Trotzdem ließ sich Nesthäkchen von jeder neuen, ganz besonders schönen Beere verlocken, immer noch ein Stückchen höher zu klettern. Emsig sammelte sie die purpurroten Beeren in ihr Gefäß. Das war schon halb voll.
Endlich hielt die kleine Beerensammlerin mit einem tiefen Atemzug inne, um sich ein wenig zu verschnaufen. Als sie das vor Eifer glühende Gesichtchen hob, sah sie plötzlich zu ihrem größten Erstaunen eine zweite kleine Beerensammlerin vor sich. Ein kleines Bauernmädel war’s, nicht größer als Annemarie selbst. Aber das Röckchen, das es trug, war lange nicht so schön wie Annemaries Blümchenkleid. Es war vielfach geflickt. Die sonnenverbrannten Beinchen steckten weder in Schuhen noch in Strümpfchen, barfuß liefen sie über den rauhen, steinigen Boden des Gebirges.
Neugierig starrten sich die beiden Kinder, die sich plötzlich im tiefen Walde gegenüberstanden, an.
»Suchst du auch Himbeeren?« fragte Annemarie schließlich als die keckere von beiden.
Die Kleine nickte und wies auf eine Emaillekanne, die fast gefüllt war.
»Ach, hast du aber eine Menge, wollt ihr die alle heute abend essen?« setzte das Großstadtkind die Unterhaltung fort.
Das kleine Mädel schüttelte den Kopf.
»Ich verkaufe meine Beeren, du nicht auch?« Verwundert sah das Barfüßchen auf Annemarie, die laut auflachte.
»Warum lachst du denn?« fragte es etwas betreten. »Von dem Geld kaufe ich Milch fürs Brüderle und für meine lieben Katzel.«
Klein-Annemarie lachte nicht mehr. Mit heimlicher Bewunderung schaute sie auf das arme Kind, das nicht größer war als sie und schon Geld verdiente. Wieviel besser hatte sie es doch, daß sie die gesammelten Beeren sich selbst gut schmecken lassen durfte.
»Wie alt ist dein kleiner Bruder?« erkundigte sie sich schnell, um ihre Verlegenheit zu verbergen.
»Auf den Herbst hat er’s Jahr. Aber meine Katzel, die sind erst ein paar Wochen alt. Süß sind die kleinen Tierle, fünf Stück, die solltest du mal anschauen. Vater wollte sie ersäufen, aber ich leid’s nicht, ich hab’ sie halt gar so lieb. Ja, verschenken, zu recht guten Menschen geben, tät’ ich schon eins.« Die kleine Fremde war ganz gesprächig geworden.
»Ach, schenke mir eins, ja, willst du? Bitte, bitte! Ein richtiges, lebendiges Kätzchen habe ich mir schon längst gewünscht. Bloß Mutti sagt immer, für die Stadt ist solch Tierchen nichts. Aber nun bin ich doch hier auf dem Land, da wird sie’s schon erlauben. Und bei meiner Puppe Gerda kann es schlafen!« Nesthäkchen war ganz aufgeregt. »Ja, schenk’ mir eins, du – wie heißt du denn eigentlich?«
»Mizi, die Himbeermizi bin ich halt, das ist ein schöner Name, gelt? Und wer bist du?« Die Kleine bückte sich während der Unterhaltung eifrig weiter und füllte ihre Kanne mit Beeren.
»Ich bin die Annemarie Braun aus Berlin. Sag’, wann schenkst du mir das Kätzchen, Mizi?« Das lag der Kleinen im Augenblick am allermeisten am Herzen.
»Kannst ja gleich mitkommen und dir eins aussuchen. Wenn mein Töpfel voll ist, geh’ ich heim.«
»Au ja, au fein! Weißt du was, Mizi, nimm meine Himbeeren noch dazu, da esse ich heut’ abend weniger.« Eifrig tat die Kleine von ihrer Ernte in Mizis Kanne. Die füllte sich schnell.
»So, schau, jetzt können wir gehen.« Erfreut faßte die Himbeermizi nach Annemaries Hand.
»Ja – aber – wohnst du auch nicht zu weit?« In Nesthäkchens Seele kämpfte der Wunsch nach dem kleinen, lebendigen Kätzchen mit dem deutlichen Empfinden, wieder etwas Unerlaubtes zu begehen. Hatte sie ihren Eltern nicht erst vor zwei Tagen fest versprochen, nie wieder ungehorsam zu sein und niemals wieder fortzulaufen? Fräulein würde sie gewiß suchen – ja, wo war denn Fräulein überhaupt geblieben?
Annemarie spähte durch die moosbewachsenen Stämme der alten Bergföhren vergebens in den Waldgrund hinab. Kein Fräulein ließ sich blicken. Die Kleine hatte es in ihrer lebhaften Unterhaltung nicht beachtet, daß sie sich ein ganzes Stück entfernt hatte.
»Wohnst du auch wirklich nicht weit, Mizi?« fragte sie noch einmal ängstlich.
»Nein, gleich das erste Hüttl am Berg.«
Das klang ganz nah. Da konnte sie es schon wagen, sich flink eins der süßen Kätzchen zu holen.
Annemaries guter Engel hielt sich traurig beide Augen zu, um es nicht mit anzusehen, daß die Kleine schon wieder etwas Unrechtes tun wollte. Denn wenn ein Kind unartig ist, weint sein Schutzengel.
Da erklang es ganz aus der Ferne gedämpft empor: »Annemie – Annemie!« Das war Fräuleins Stimme.
»Ja – hier!« schrie Nesthäkchen zurück, und eine Bergeslast fiel ihm vom Herzen. Das war das Unrecht, das es im Begriff gewesen war, zu begehen und das ihm schon im voraus schwer auf der Seele lag.
»Hier – ich komme schon – du mußt auch mitkommen, Mizi.« Wie die wilde Jagd ging es über ächzendes Moos und knackendes Geäst talwärts. Annemarie sah jetzt erst im Herabsausen, wie hoch sie bei ihrem Beerensuchen in die Berge hinaufgeklettert war.
»Aber Annemie, wie leichtsinnig, dich so weit fort zu wagen.« – Fräulein, die das Kind schon geraume Zeit gesucht hatte, hielt plötzlich mitten in ihrer Strafpredigt inne. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen tauchte nicht nur ein kleines Bauernmädel vor ihr auf, sondern zwei.
»Das ist die Himbeermizi«, stellte Annemarie die neue Bekannte vor. »Sie hat fünf süße, lebendige Kätzchen und will mir eins davon schenken. Bitte, liebes, gutes Fräulein, wir wollen doch gleich mitgehen, sie wohnt ganz in der Nähe.«
»Aber Annemie, was sollen wir denn in Berlin mit einer Katze anfangen? Die kannst du doch nicht in einen Vogelbauer setzen wie dein Mätzchen! Und wenn sie frei herumläuft,