»Spiele doch mit deinem hübschen Kaufmannsladen, du hast dich doch sonst so gern damit beschäftigt«, sagte Mutti kopfschüttelnd.
Dann lief Annemie wohl zu Hanne und bettelte ihr allerlei für ihren Laden ab, aber wenn es endlich soweit war, daß das Spiel beginnen sollte, hatte sie es auch schon wieder über.
»Fräulein, ich langweile mich so«, klang es aufs neue.
Vorwurfsvoll sahen die Puppen auf den kleinen Quälgeist. Sie hätten Annemie nur zu gern die Zeit vertreiben helfen, aber die mochte ja nichts mehr von ihnen wissen.
»Ich wollte, du wärst in der Schule angenommen worden, Lotte«, sagte Mutti mit einem tiefen Seufzer.
Nesthäkchen war derselben Meinung, dann brauchte sie sich wenigstens hier zu Hause nicht so zu langweilen.
Aber eines Tages, als es mit Annemie mal wieder gar nicht auszuhalten war, als sie mit keinem Spielzeug spielen wollte, hatte Mutti die Sache satt.
»Du kommst in einen Kindergarten, mein Kind, da bist du wenigstens vormittags beschäftigt«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Ein Kindergarten – was war denn das? Das Wort »Garten« erweckte in Nesthäkchen Vorstellungen von dem schönen Arnsdorfer Gutsgarten, wo man nach Herzenslust auf dem Rasen herumtollen durfte, wo man auf Bäume klettern konnte und sich Obst pflückte, soviel man nur wollte. Und daß noch mehr Kinder in diesem Garten waren, erschien Annemie nur um so verlockender. Sie war mit einemmal wieder wie ausgetauscht. Das weinerliche Mauzen war verstummt, jubelnd klang es bei Doktors durchs Haus: »Morgen komme ich in den Kindergarten!«
Mutti brachte ihr Nesthäkchen selbst hin. Es war ein Privatkindergarten von zehn Kindern in der Nähe, der ihr empfohlen worden war.
»Wo ist denn der Garten?« fragte Annemie, sich vergeblich umschauend, als sie zwei Treppen in einem Hause heraufgestiegen waren.
Aber Mutti konnte nicht mehr antworten, denn es wurde bereits auf ihr Klingeln geöffnet.
Eine liebenswürdige junge Dame kam ihnen entgegen.
»Ich möchte meine Kleine für Ihren Kindergarten anmelden, Fräulein Gebhardt«, sagte Mutti. »Sie ist in der Schule wegen Überfüllung nicht angekommen und kann sich nicht mehr zu Hause beschäftigen.«
Annemie wurde rot. Nun wußte das fremde Fräulein gleich, wie unartig sie zu Hause gewesen.
Aber die junge Dame beugte sich freundlich zu der Kleinen herab, streichelte ihr die Wangen und meinte: »Wir werden sicherlich gute Freunde werden, ich bin Tante Martha, und wir werden schön zusammen spielen.« Dann öffnete sie die Tür zum Nebenzimmer. »Siehst du, hier ist unser Kindergarten, da sind noch mehr kleine Mädchen und Jungen, willst du ihnen mal ›Guten Tag‹ sagen?«
Aber das wollte Annemie ganz und gar nicht. Scheu stand sie auf der Türschwelle, den Zeigefinger im Munde, und warf einen schüchternen Blick in das Nebenzimmer.
Sollte das vielleicht ein Garten sein? Da drin in der Stube spielten zwei kleine Mädchen mit Puppen, mehrere kleine Knaben hatten sich aus Stühlen eine Eisenbahn zusammengekoppelt und riefen: »Abfahrt!«, während zwei andere Jungen einen großen Turm aus Bausteinen bauten. Am Tisch aber saßen ebenfalls einige Kinder, die Köpfchen eifrig über bunte Flechtarbeiten gebeugt.
»Das Beste ist, Sie lassen mir Ihre Kleine gleich da, gnädige Frau, sie gewöhnt sich dann am schnellsten«, sagte das Fräulein.
Mutti war durchaus damit einverstanden.
Sie beugte sich zu Annemie herab, küßte sie und sagte in mahnendem Ton: »Nun sei brav, meine Lotte, heute mittag holt dich Fräulein wieder ab.«
Aber Frau Doktor Braun war noch nicht aus dem Zimmer heraus, als ein ohrenbetäubendes Geheul hinter ihr her klang.
»Mutti – Mutti – du sollst nicht weggehen!« Da hatte Annemie auch schon die Ärmchen um Mutti geschlungen und sich an sie gehängt.
»Aber Lotte, sei doch nicht so dumm, die anderen Kinder sind doch alle ohne ihre Mutti hier und weinen nicht«, beruhigte Frau Doktor ihr Nesthäkchen.
»Komm, ich zeige dir was ganz Wunderschönes«, tröstete Tante Martha und schob Annemie ein Stückchen Schokolade in den zum Weinen geöffneten Mund. Die tröstete noch besser als die Aussicht auf das Wunderschöne.
Da holte die junge Dame eine Glaskugel herbei, in der ein niedliches Puppenhäuschen stand. Annemie sah neugierig zu, wie sie nun die Kugel umkehrte.
Ach, war das fein – es schneite – große, dicke Flocken flogen in der Glaskugel umher und machten im Umsehen das niedliche Häuschen schlohweiß.
Annemie klatschte in die Hände vor Freude und ihr ganzer Jammer war vergessen.
Inzwischen hatte Fräulein Gebhardt Mutti ein Zeichen gegeben, das Zimmer zu verlassen. Als Annemarie sich umdrehte, um Mutti das reizende Schneehäuschen zu zeigen, war keine Mutti mehr da.
Schreiend wollte Nesthäkchen spornstreichs hinter ihr her. Aber Tante Martha hatte den Arm um sie geschlungen.
»Bist du denn nicht gern zu uns in den Kindergarten gekommen?« fragte sie.
»Ja, aber hier ist ja gar kein Garten, hier ist ja bloß eine olle Stube!« rief Annemie ungezogen.
Da sah sie Tante Martha traurig an, und die Kinder ringsum machten erschrockene Gesichter. Ach, wie schämte sich Klein-Annemarie da!
»Nun wollen wir mal alle zusammen Kreis spielen«, sagte Tante Martha, als ob sie die Verlegenheit des kleinen Mädchens gar nicht sähe. »Kannst du etwas vorschlagen, Lotte?«
»Ich heiße nicht Lotte«, sagte die noch immer weinerlich.
»Wie denn sonst, deine Mutti hat doch vorhin Lotte zu dir gesagt?« verwunderte sich Tante Martha.
»Ja, Vater und Mutti nennen mich Lotte, aber auch nur, wenn ich artig bin, sonst heiße ich Annemie«, erklärte die Kleine.
»Dann sei nur recht brav, daß ich dich auch bald Lotte nennen kann. Und nun wollen wir ›Schwesterchen, komm mit‹ spielen. Faß den kleinen Jungen an, Annemie.«
Fünf Minuten später hätte keiner mehr gedacht, daß Annemie überhaupt je geweint hätte. Ihr ganzes Gesichtchen lachte vor Vergnügen. Selig sprang sie mit den anderen Kindern im Kreise herum und sah gar nicht mehr, daß es ein Zimmer war und kein Garten, in dem man spielte.
Tante Martha war aber auch zu nett. Was wußte die für hübsche Spiele: »Faules Ei« und »Stummes Winken« und das ulkige Spiel vom »Mi – ma – mausemann.«
»Sind das alles deine Kinder, Tante Martha?« fragte Annemie mitten beim Spiel.
»Nein, das wäre ein bißchen viel,« lachte Tante Martha, »die habe ich mir nur geborgt.«
»Ach, ich habe auch zu Hause sechs Kinder,« erzählte die Kleine eifrig, »aber Gerda ist mein liebstes, mein Nesthäkchen. Die ist so groß –« Annemie stellte sich auf die Zehen, reckte ihre Ärmchen und zeigte ungefähr die Größe von Tante Martha.
»Na, bring’ uns doch deine Gerda morgen mit, daß wir sie auch kennen lernen«, sagte Tante Martha lächelnd.
»Was – Gerda darf mit in den Kindergarten kommen?« Helle Glückseligkeit leuchtete aus Klein-Annemies Blauaugen.
»Freilich,« nickte Tante Martha, »siehst du, hier die kleine Erna hat auch ihren Bubi mitgebracht und Milly ihre Toni mit den schwarzen Zöpfen. Heute kannst du ihr Kinderfräulein sein, und morgen bist du dann auch eine Mutti und stellst uns dein Kind vor.«
Das wurde ein lustiges Spiel. Nesthäkchen, das zu Hause gar nicht mehr mit den Puppen hatte spielen mögen, ging stolz als »Fräulein« mit Millys Toni und Ernas Bubi in den Tiergarten. Und alle paar Minuten sagte sie zu Toni: »Aber du bist ja wirklich ein schrecklicher Quälgeist, Mädchen, spiele doch wie die anderen Kinder und sage nicht immer: ›Ich langweile mich‹«
Als