»Die nehmen wir mit, die hat ja hier wunderschön auf Bäume klettern gelernt.« Klaus wußte Rat.
Annemie war natürlich sofort für den Vorschlag zu haben. Und kurz vor vier sah man eine Range nach der anderen erst auf die Bank und von da aus in das niedrige Geäst des großen, dichten Nußbaumes klettern. Selbst Annemie brachte das Kunststück mit Herberts Hilfe zuwege.
»Nun noch meine Gerda«, auch die mußte die Reise auf den Baum antreten.
Die Kleine klatschte vor Freude in die Hände.
»Fein ist’s hier oben, ich sitze wie in einer grünen Laube!« rief Annemie.
Aber »pst« machte Herbert über ihr, denn da kamen schon die ersten Damen.
Klein-Annemie hielt Gerda vorsorglich den Mund zu.
Es dauerte den Vöglein in den grünen Zweigen recht lange, bis alle vollzählig waren, und Mamsell mit der großen Kaffeekanne erschien. Die Riesenschale Schlagsahne stellte sie in die Mitte des Tisches gerade unter den Nußbaum. Peter, das Schleckmäulchen, leckte sich die Lippen, und auch Herbert, Klaus und Annemie, die anderen Vögel, machten lange Hälse und sperrten begehrlich die Schnäbel auf.
Eigentlich war es schrecklich mopsig bei solchem Damenkränzchen. Die taten ja nichts weiter als essen, trinken und reden. Hin und wieder lachten sie auch, aber gar nicht so toll, wie Herbert gesagt hatte.
Ach, wieviel schöner wäre es jetzt, im Wäldchen zu spielen und zu toben, als hier oben so mäuschenstill zu sitzen und sich halbtot zu langweilen.
Jeder einzelne von den fünf Vögeln – Puppe Gerda mit einbegriffen – wünschte, daß Klaus niemals auf den Gedanken gekommen wäre. Und er selbst am meisten. Ja, er überlegte allen Ernstes, ob man nicht heimlich hinter dem Baum herunterrutschen könnte.
»Nun reisen Ihre kleinen Gäste auch schon wieder ab, es wird Ihnen wohl ordentlich schwer, sich von ihnen zu trennen?« wandte sich die dicke Frau Bürgermeister an Tante Kätchen.
»O ja,« antwortete die, »Klein-Annemarie wird mir sehr fehlen. Klaus, der Unband, allerdings weniger. Ich bin jeden Tag froh, wenn er mit heilen Gliedern heimkommt.«
»Siehst du, Klaus, da hast du’s – der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand’.«
Annemie konnte nicht mehr still sitzen. Der Ast, auf dem sie saß, begann bedenklich zu knacken. Auch Puppe Gerda hatte es nun über, sich ruhig zu verhalten. Sie baumelte zum Zeitvertreib ein bißchen mit ihren Beinen.
»Holla – was ist denn das?« Auf Frau Apothekers Nase war plötzlich etwas vom Baum herabgesprungen und zur Erde gefallen, etwas kleines Braunes.
»Es wird eine Nuß gewesen sein«, beruhigte Tante Kätchen die erschreckte Dame.
Gerda aber reckte den Hals hinter ihrem ausgerückten Goldkäferschuhchen her.
Bautz – da verlor sie selbst das Gleichgewicht, kopfüber stürzte sie vom Baum herab, mitten hinein in die Schlagsahne.
Laut auf kreischte das Damenkränzchen vor Schreck.
Nur die dicke Frau Bürgermeister behielt ihren Humor.
»Was kommt denn da für ’n Vogel angeflogen?« lachte sie und fischte Gerda aus der Schlagsahne.
»Das ist ja Annemies Puppe, na, da wird ihr Mütterchen wohl auch nicht weit sein!« rief Tante Kätchen und spähte in den Nußbaum.
Richtig, da wuchsen ein paar braune Kinderbeinchen.
Und ein jämmerliches Stimmchen rief herunter: »Bitte, Tante Kätchen, hole mich doch!«
Unter allgemeinem Lachen kam auch das zweite Vögelchen zum Vorschein.
»Aber Annemie, was wolltest du denn da oben?« fragte Tante Kätchen, als die Kleine endlich wieder glücklich auf ihren Füßchen stand.
»Wir wollten doch so schrecklich gern bei deinem Damenkränzchen bei sein, aber es war mächtig langweilig!«
Da lachten die Damen wieder über die schmeichelhafte Kritik, Tante Kätchen aber fragte erstaunt: »Wir – wen meinst du denn noch?«
»Na, die drei Jungs, Gerda und ich.« Aufs neue lugte Tante Kätchen in den Nußbaum, aber kein Vogel ließ sich weiter sehen.
Die drei waren längst in dem allgemeinen Tumult ausgeflogen, das Nest war leer.
Das war Klaus und Annemies letzter Streich in Arnsdorf, und am nächsten Tage ging’s nach Hause.
16. Kapitel
Im Kindergarten
Eigentlich hatte Nesthäkchen zu Oktober in die Schule kommen sollen. Sie war auch bereits angemeldet worden. Aber die städtische Mädchenschule in der Nähe war überfüllt, und in eine Privatschule wollten die Eltern die Kleine nicht schicken. So wurde Annemie denn für Ostern vorgemerkt, und Mutti war froh, ihr Nesthäkchen noch den Winter über zu Hause behalten zu können.
Aber es kamen Tage, an denen Mutti doch wünschte, Annemie wäre zu Oktober in der Schule angenommen worden. So erfreut die Eltern auch waren, ihre Kinder sonnenverbrannt und rotbäckig wiederzusehen, so wenig erfreut waren sie über die Verwilderung, die mit ihnen bei dem ungebundenen Landleben vor sich gegangen.
Für Klaus war ja die Schule die beste Medizin, da mußte er wieder still sitzen lernen, aber Nesthäkchen war schwer daheim zu bändigen. Sie konnte sich gar nicht wieder an das Stadtleben gewöhnen.
Die Korridortür mußte fest verschlossen bleiben, damit es Annemie nicht einfiel, plötzlich, ohne Hut und Mantel, auf und davon zu gehen – sie hatte es ja in Arnsdorf auch so gemacht. Auf dem Balkon konnte man sie schon gar nicht mehr allein lassen, denn sie kletterte dort an dem Gitter ebensogut hoch, wie in Arnsdorf an den Bäumen. Selbst während der Sprechstunde mußte Vater seine Zimmer fest verschlossen halten, seitdem sein Fräulein Tochter plötzlich bei ihm erschienen war und ohne Scheu vor den Patienten erklärt hatte, sie wolle ihm ein bißchen kurieren helfen.
Auch im Tiergarten war der Wächter keine gefürchtete Persönlichkeit mehr. Annemie sprang übers Gitter und lief auf den Rasen hinter ihrem Ball her, ob Fräulein auch noch soviel warnte. Fräulein hatte es jetzt recht schwer mit dem Wildfang.
Sehr erstaunt und recht wenig erfreut waren die Puppen über die Verwandlung, die mit ihrer kleinen Mama vor sich gegangen war. Nur ganz selten mochte sich Annemie noch mit ihnen abgeben, viel lieber tollte und tobte sie. Kurt mußte jetzt eine ganze Woche mit einem Loch im Strumpf gehen, Irenchen bekam nur höchstens alle acht Tage noch ihre echten Haare ausgekämmt, Mariannchens Augen blieben verklebt, Lolo war noch schmutziger als früher, und Baby wollte gar nicht mehr recht gedeihen. Es fehlte allen die Mutterliebe. Annemie zog die Puppen nicht mehr an und aus, sie ließ sie nicht mehr in ihrem Gärtchen spazierengehen, ja, nicht einmal ins Bett kamen die armen Würmer. Meistens lagen sie verstreut auf der harten Erde herum. Das arme Irenchen hatte neulich sogar die ganze Nacht unter dem Kleiderschrank zubringen müssen. Auch hungern ließ das schlechte Puppenmütterchen ihre Kinder, sie hatte ja keine Zeit mehr, für sie zu kochen. Sie mußte ja auf den Tisch klettern, von den Stühlen springen und Radau machen. Nur Gerda, die Lieblingspuppe, wurde nicht vernachlässigt, die war bei allen Dummheiten ihre treue Genossin.
Noch schlimmer wurde es, als das schöne Sommerwetter ein Ende hatte, und häßliches, graues Regenwetter kam. Annemarie konnte nicht mehr in den Tiergarten gehen und mußte nun zu Hause bleiben.
Aber das kleine Mädchen, das früher niemals Langeweile gekannt, das sich stundenlang allein beschäftigte, hatte das Stillsitzen verlernt.
»Fräulein, was soll ich denn bloß machen?« – »Mutti, ich langweile mich ja so schrecklich« – so ging das den ganzen Tag.
»Du müßtest