»Lieber Gott,« betete sie, »laß mich wenigstens eines sanften Todes sterben. Sorge dafür, daß der schlimme Klaus mich nicht in den Entenpfuhl bei den grünen Froschscheusalen ersäuft!«
Klaus raste mit dem entführten Kinde über Stock und Stein. Der Puppe schwanden die Sinne, sie schloß die Augen. Sie wollte gar nicht sehen, was der Bösewicht mit ihr vorhatte.
Als sie die Augenlider endlich wieder zu öffnen wagte, kniff sie sich mit der Zelluloidhand in die Nase, um zu sehen, ob sie überhaupt noch am Leben sei. Wo war sie denn bloß – etwa gar schon im Himmel?
Nein, so sah es im Himmel ganz sicher nicht aus. Ein mattes Dämmerlicht herrschte im Raum und eine merkwürdig warme Luft umwehte sie. Auch ließ sich ab und zu ein seltsames Brummen vernehmen. Dann pochte der Puppe das Herz vor Schreck bis in den Hals hinein.
Mit ihrem Lager konnte Puppe Gerda eigentlich ganz zufrieden sein. Sie ruhte in einer bequemen Holzwiege auf weichem, grünem Gras. Aber sie hätte gern gewußt, wo sie sich denn eigentlich befand.
Da wurde das Brummen neben ihr stärker – Gerda hielt den Atem an.
Barmherziger Himmel – über ihr tauchte ein fürchterliches Ungeheuer auf, mit glotzenden Augen und weitaufgerissenem Maul – eine Kuh!
Du guter Gott, die würde sie im nächsten Augenblick mit Haut und Haar verschlingen! Jetzt wußte die arme Gerda mit einem Male, wohin der arge Klaus sie geschleppt hatte, in die Futterkrippe des Kuhstalls hatte er sie gelegt.
Warum wartete denn das Ungetüm bloß noch, warum fraß die Kuh sie nicht lieber gleich auf, dann hatte wenigstens das Elend ein Ende!
Aber die Kuh dachte gar nicht daran, Gerda zu fressen, die hatte genau so große Furcht vor der Puppe, wie die vor ihr. Mit angstvoll glotzenden Augen starrte sie auf das merkwürdige Futter in ihrer Krippe.
Plötzlich fühlte Puppe Gerda sich ergriffen. Sie traute sich nicht, die Augen aufzuklappen, sicher hatte das Ungetüm sie bereits zwischen den Zähnen.
»Leb’ wohl, Annemiechen, ich danke dir auch schön, daß du mich so lieb gehabt und stets so gut für mich gesorgt hast!« dachte die Puppe noch.
Da vernahm sie eine menschliche Stimme: »Potzwetter nicht noch mal, was haben die Knechte denn hier zwischen das Futter geschüttet –« und dann dröhnendes Lachen. »Ei, ist das nicht Klein-Annemaries Püppchen, das hätte sich die Bleß bald zum Abendbrot schmecken lassen!« Es war der Gutsherr, der das Futter des Viehs in Augenschein nahm.
Gerda blinzelte durch die Wimpern. Nein, sie befand sich nicht, wie sie gefürchtet, zwischen den Zähnen der Kuh, Onkel Heinrich hatte sie in seinen Fingern. Und jetzt steckte er sie in die Innentasche seiner Joppe – ach, wie geborgen fühlte sich die halbtot geängstigte Puppe an Onkels Brust.
Hinter den beiden brüllte es laut her vor Freude, die Kuh ließ sich jetzt endlich ihr Abendbrot schmecken.
Als auch die Familie auf der rosenumrankten Veranda beim Abendessen zusammensaß, fand sich endlich auch der Räuberhauptmann Klaus ein.
Annemie ließ ihre Erdbeermilch in Stich und packte ihn am Jackenzipfel.
»Klaus, wo hast du meine Gerda gelassen?«
Der Junge machte ein verschmitztes Gesicht.
»Die Prinzessin sitzt in einer Höhle gefangen«, antwortete er.
»Du sollst sie aber wiedergeben, du alter Räuber, meine süße Gerda grault sich so allein«, jammerte das Puppenmütterchen.
»Was zahlst du Lösegeld?« leitete der Räuberhauptmann die Verhandlungen ein.
»Meinen neuen Kreisel – und – und ein Marienkäferchen – und denn noch meine ganze Erdbeermilch«, rief Annemie weinend, da Klaus immer noch den Kopf schüttelte.
Puppe Gerda, die alles in Onkel Heinrichs Tasche mitanhörte, war ordentlich gerührt von der opferfreudigen Liebe ihrer kleinen Mama.
Onkel aber legte sich ins Mittel.
»Nichts da, Bandit, du schaffst die Puppe sofort ohne jedes Lösegeld her, sonst bekommst du überhaupt keine Erdbeermilch.«
Klaus gehorchte. Er hatte großen Respekt vor Onkel Heinrich und außerdem – Erdbeermilch aß er für sein Leben gern. Aber mit entsetztem Gesicht erschien er einige Minuten später wieder.
»Es ist was Schreckliches passiert!« stieß er hervor.
»Was – was denn?« Alles rief durcheinander.
»Die Kuh hat die Puppe aufgefressen! Ich hatte sie in der Futterkrippe versteckt, und jetzt ist die leer!«
»Meine arme Gerda!« Annemies Tränen flossen in Strömen, und auch Klaus fing an zu heulen. Und daran war nicht die Erdbeermilch, die er nun sicher nicht bekam, schuld, sondern Gerda und das Schwesterchen taten ihm ganz schrecklich leid. Er hatte ja kein schlechtes Herz, er war ja nur ein ausgelassener Strick.
Und während Annemie und Klaus die aufgefressene Gerda beweinten, hätte man deutlich ein feines, feines Lachen aus Onkels Rocktasche vernehmen können. Aber keiner hörte darauf.
Da, als Klein-Annemie wieder besonders schmerzlich aufschluchzte, fühlte sie plötzlich einen weichen Lockenkopf an ihrer nassen Wange. Zärtlich schmiegte sich ein kleines, kaltes Gesicht an ihr heißes.
»Gerda – du lebst!« Die hell aufjubelnde Annemie hielt ihr totgeglaubtes Kind unversehrt in den Armen.
Onkel Heinrich aber hatte den weinenden Räuberhauptmann am Schlafittchen.
»Diesmal habe ich die Puppe noch errettet, aber wehe dir, du Bengel, wenn du ihr noch mal auch nur ein Härchen krümmst!«
Klaus versprach hoch und heilig, Puppe Gerda von nun an in Frieden zu lassen und machte sich erleichtert an seine Erdbeermilch.
Wirklich, der Schreck hatte was genützt, Klaus ließ die Puppe jetzt ungeschoren. Aber seine wilden Streiche unterblieben trotz alledem nicht. Sogar das Schwesterchen verführte er dazu.
Es war am Tage vor der Heimreise. Da hatte Tante Kätchen ihr Damenkränzchen bei sich. Das war eine Kaffeegesellschaft von zwölf Damen, die jede Woche wo anders stattfand. Mehrere Damen von benachbarten Gütern und verschiedene aus dem nahen Städtchen gehörten dazu.
Da das Wetter so wunderschön war, hatte Tante Kätchen die Kaffeetafel im Freien unter dem großen Nußbaum gedeckt. Elli hatte fleißig dabei geholfen, und auch Annemie eifrig Teelöffel und Servietten herumgelegt.
»Ihr Kinder könnt heute nachmittag im Wäldchen spielen, da hören wir euer Toben wenigstens nicht«, sagte Tante Kätchen zu den drei Jungen. »Aber paßt mir auf Annemie auf, Elli geht in die Stadt zur Klavierstunde, und Fräulein will packen.«
»Schade, daß wir nicht beim Kaffeekränzchen sein dürfen«, sagte Herbert mit einem bedauernden Blick auf die rosengeschmückte Tafel.
»Ja, Mamsell hat Kuchen gebacken und Schlagsahne geschlagen«, fiel auch Peter betrübt ein.
»Ne, das meine ich nicht«, ließ sich der ältere Herbert wieder vernehmen. »Aber sie lachen immer so toll beim Kaffeekränzchen, man hört es Gott weiß wie weit. Wenn ich bloß mal dabei sein könnte!«
»Das kannst du ja«, fiel Klaus mit Gemütsruhe ein.
»Ne, Mutter hat gesagt, wir sollen im Wäldchen spielen.«
»Du mußt dich eben nicht sehen lasten«, meinte Klaus, der kleinste, aber durchtriebenste von den dreien.
»Wir könnten uns vielleicht unterm Tisch verstecken«, überlegte Herbert.
»Ne, da erwischt man uns, das Tischtuch reicht nicht soweit runter.« Peter schüttelte den Kopf.
»Aber hier oben im Nußbaum sieht uns kein Mensch, der ist ja so dicht«, flüsterte