»Natürlich, die Kinderfrau muß dabei sein. Es ist ganz gut für dich, Ilslein, daß du mal lernst, selbständig zu gehen und dich nicht immer von deiner Kinderfrau Marlene gängeln zu lassen«, entschied Doktors Nesthäkchen weise.
»Die Kinderfrau hat selbst einen Bammel, wenn sie an das erste Kolleg morgen denkt. Botanik, Physik und Chemie hören wir ja wenigstens alle drei zusammen«, beruhigte Marlene die Cousine.
»Ja, aber morgen habe ich nur Sprachfächer – o Gott, wenn mich solch oller bärbeißiger Professor bloß nicht beißt!«
»Dann beiß wieder«, lachte Annemarie. »Ich habe nicht die Bohne Bammel vor morgen.«
Untergeärmelt zogen sie unter solchen Gesprächen den Burgberg nach dem Schloß Hohentübingen hinauf. Bis zum Nachtmahl war noch eine Stunde Zeit. Von dort oben genoß man sicher einen schönen Sonnenuntergang. Die vielzackigen Giebel der Altstadt kletterten, je höher die jungen Mädchen kamen, um so tiefer den Burgberg herab. Das war ein lustiges Übereinander und Durcheinander von Zacken und Spitzen. Jetzt standen sie vor dem alten Steinmassiv der mittelalterlichen Burg. Das wuchtige niedrige Steintor mit seinem breiten Rundbogen hemmte sofort Ilses Schritt.
»Wundervoll, das müßte mein Vater sehen!« Das Bauratstöchterlein betrachtete eingehend die kunstvollen Skulpturen, Wappen, eingravierten Sprüche und Zahlen.
»Wieviel Kriegsstürmen mag dieses Tor im Mittelalter getrotzt haben.« Sinnend sah Marlene auf die gewaltigen Steinmauern.
»Eine herrliche Rundsicht muß man oben vom Schloßaltan haben, flink, kommt!« Annemarie drängte weiter.
»In welchem Stil ist das Schloß erbaut?« examinierte Ilse.
»Ist ja ganz schnuppe – die Sonne geht unter, ehe wir den Blick genossen haben. Den Stil können wir ja nachher auch noch ergründen.«
Doktors Nesthäkchen war schon um eine Pferdelänge voraus.
»Renaissancestil ist es, du ungebildetes Ding. Die Sonne hast du auch in Charlottenburg jeden Abend untergehen sehen. Aber das Schloß Hohentübingen bewunderst du heute zum erstenmal.«
»Was mag das Schloß hier während der Bauernkriege alles mit angeschaut haben!« Marlene hatte mehr Sinn fürs Historische.
»Renaissancestil und Bauernkriege – was gehen die uns an einem so herrlichen Frühlingsabend an! Heute leb’ ich – heute genieß’ ich!« Annemarie stürmte kurzentschlossen den andern voran in das Innere des Schloßhofes zu dem »Lueg ins Land«, von dem man den schönsten Ausblick haben sollte.
»Bravo – bravo – hahaha, das nenn’ ich halt lebensfreudig und jugendfrisch! Was kümmert uns Bücherweisheit und steinerne Vergangenheit, wenn das blühende Leben einem lacht.«
»Von all den drei Mädeln so schlank und so hold, gefällt mir am besten die eine; die Augen so strahlend, die Haare wie Gold; errät ihr’s halt, welche ich meine!« Lachende Studentengesichter tauchten an einem der Schloßfenster auf. Keck brachten sie im Chor den drei hübschen Jungfräulein, deren Unterhaltung sie mit angehört hatten, ein Ständchen.
Ilse wurde so rot wie ihr rotweißgepunktetes Musselinkleid. Marlene runzelte hoheitsvoll die Stirn und tat, als ob sie taub wäre. Doktors Nesthäkchen aber rief unverfroren: »Danke vielmals für den musikalischen Kunstgenuß!«
»Nicht doch – wie kannst du nur auf solche Dreistigkeit antworten, so etwas überhört man.« Marlene war ernstlich ungehalten über die ihrem Schutz Anvertraute.
»Du willst dich wohl hier zum Tugendschäfchen Nummer 2 ausbilden, Marlene? Wenn man Studentin ist, darf man sich nicht in einem Glaskasten absperren und etepetete tun. Die jungen Dachse sind doch nur harmlos lustig.«
»Als ob du älter bist als sie. Wen meinten sie eigentlich von uns drei holden Grazien?« Ilse kicherte in sich hinein.
»Mich ganz gewiß nicht. Nicht mal bei diesem herrlichen Sonnenuntergang glänzt mein Haar wie Gold«, lachte jetzt auch Marlene, sich die dunklen Haare, mit denen der Wind spielte, zurückstreichend.
»Wir werden uns um die Ehre duellieren, Ilse. Heute abend beim Zubettgehen wird geboxt.«
Sie waren hinausgetreten auf den »Lueg ins Land« und standen und schauten nun in stummer Andacht. Brennendrot flammten die Ziegeldächer der zu ihren Füßen ruhenden Stadt. Das krause Giebelgewirr hatte die tief im Westen stehende Sonne in purpurne Tinten getaucht. Blitzende Goldfunken sprühte der die Stadt wie ein Flimmergürtel umwindende Neckar. Rosenrote Wiesen dehnten sich unwahrscheinlich märchenhaft bis an die violetten Höhenzüge der Alb.
»Ist das schön, ist das bezaubernd schön!« Annemarie war die erste, die Worte für ihre Begeisterung fand.
»Gelt, am Neckar läscht sich’s lebe?« Die Studenten hatten die Bücher in der Universitätsbibliothek, die im Schloß untergebracht war, schleunigst zugeschlagen, um sich die drei hübschen Mädel, die sie bisher in Tübingen noch nicht gesehen, etwas näher anzuschauen. Mit der den Süddeutschen eigenen Unbefangenheit mischten sie sich in ihr Gespräch.
»Herrlich ist es!« bestätigte Doktors Nesthäkchen mit der gleichen Zutraulichkeit.
Marlene stieß Annemarie heimlich an. Wozu antwortete die bloß? Dann war es natürlich kein Wunder, wenn die Studenten nachher dreist wurden.
»Sie sind halt noch nicht lang dahier?« begann einer von ihnen wieder.
»Erst seit gestern.«
»Hoffentlich nit bloß auf der Durchreis’, sondern für längere Zeit.«
»Ja, für ein ganzes Jahr. Wir wollen hier studieren.« Doktors Nesthäkchen war noch nie in seinem Leben schüchtern gewesen, und diesen lustigen jungen Burschen gegenüber hatte es dasselbe Gefühl, als wenn es daheim mit Klaus und Hans sprach.
»Hurra – Kommilitonen!« Ein buntes Zerevis flog in die Luft. »Seid mir gegrüßt, ihr Schwestern unserer gemeinsamen Mutter, der Alma mater!« Hände streckten sich bewillkommnend den dreien so ehrlich, herzlich und erfreut entgegen, daß selbst die schüchterne Ilse und die zurückhaltende Marlene kameradschaftlich einschlugen.
»Krabbe, Neumann, Egerling, alle drei aus dem Schwabenland.« Die drei klappten die Hacken zusammen und nannten nach allen Regeln des Anstandes ihren Namen. »Und wer seid’s denn ihr?«
»Marlene Ulrich, Ilse Hermann, Annemarie Braun; das ist meine Wenigkeit.« Lachend übernahm Annemarie die Vorstellung.
»Und was wollt’s denn werden?«
»Ich werde Naturwissenschaften studieren.« – »Ich neue Sprachen.« – »Und ich will die arme Menschheit ins Jenseits befördern helfen.« Das war natürlich wieder Annemarie.
»Famos – Spezialkollegin! I bin halt auch Mediziner. Der Krabbe studiert aufs liabe Viehle, und der Egerling wird halt geischtlich. Hören’s auch beim Bergholz?«
»Freilich, morgen früh hab’ ich mein erstes Kolleg.«
»Großartig – da treffe mer uns. Wo seid’s denn daheim?«
»In Berlin – waschecht mit Spreewasser getauft.«
»Brrr – für die Berliner Großschnäuz’ hab’ i nix nit übrig.« Das war Krabbe. »Aber weil’s gar so liab ausschaut, mag’s euch verziehe sein, daß ihr halt Berliner seid.«
»Erstens bin ich aus Charlottenburg, und wenn ihr die Berliner Großschnäuz’ nicht mögt, ich finde die schwäbische Großschnäuz’ nicht netter.« Annemarie war nicht auf den Mund gefallen. Von den dummen Jungens ließ sie sich noch lange nicht ihre Heimat schlecht machen.
»Kratzbürscht, kleine! ‘s ischt ja nur halb so schlimm g’meint«, begütigte Egerling.
»Wenn Sie für die Berliner nichts übrig haben, bitte sehr,