»Auf den Nachmittag wird ein Bummel g’macht, da zeige mer euch halt das obere Neckartal. Und wenn’s brav seid, geht’s am Samstag in die Alb nach dem Hohenrechberg, die Hohe Teck und auf den Hohenstaufe.«
»Famos!« schrie Doktors Nesthäkchen begeistert, und der sie einpressende Kopfreif war plötzlich wie fortgeblasen. Marlene schwieg. Sie überlegte, ob solch eine gemeinsame Wandertour mit ihnen doch noch ziemlich fremden Studenten wohl passend sei. Auch Ilse zögerte, trotzdem sie brennend gern den Ausflug unternommen hätte. Ihre Überlegungen galten weniger dem Anstandskodex als der finanziellen Seite des Ausflugs. Ihr Vater war Beamter und konnte seiner Tochter in den schweren Zeiten nur ein sehr bescheidenes Monatsgeld aussetzen.
»Wird’s auch nicht zu teuer?« fragte sie errötend.
»Teuer, wenn Studentle ausfliege tun? Mer habe alle ka Geld nit. Vierter Klass’ mit dem Zügle kost’ nit alle Welt. Das Esse wird im Rucksack mitgenomme und brüderlich – schwesterlich geteilt«, beruhigte sie Egerling.
»Fein!« sagte jetzt auch Ilse mit nicht geringerer Begeisterung als Annemarie.
»Was ischt fein?« Eine der Studentinnen, denen die drei Mädel unbeabsichtigt am ersten Mittag einen Besuch abgestattet, hörte Ilses begeisterten Ausruf.
»Wir wollen über den Sonntag in die Schwäbische Alb, auf den Hohenstaufen wandern.«
»Da sein mer auch dabei, wenn’sch angenehm ischt.« Mit einer harmlosen Selbstverständlichkeit, die man in Norddeutschland nicht kannte, schlossen sich die beiden sogleich an. »Erlauben’s, daß mer uns erscht mal bekannt mache tun.« »Steinbock« – »Ziegenhals« – sie stellten sich kopfnickend wie Herren vor.
»Da hätte mer ja die ganze Menagerie beieinand’«, lachte Krabbe. Dann nannten die andern gleichfalls ihre Namen.
Händeschüttelnd ging man nach Beschließung des Vergnügungsprogrammes auseinander an die Arbeit, ein jedes in sein Kolleg. Vorher wurde aber noch der Nachmittagsbummel um drei Uhr, Treffpunkt das Neptunsbrünnle am Markt, feierlich festgesetzt. Steinbock und Ziegenhals waren für heute allerdings schon anderweitig verabredet.
Marlene und Annemarie hörten das nächste Kolleg über Botanik gemeinsam.
»Weißt du, Annemie«, sagte Marlene erleichtert, »es ist mir recht angenehm, daß die Steinbock und Ziegenhals sich uns auf dem Ausflug in die Alb anschließen wollen. Ich hab’ doch die Verantwortung für euch Küken, daß ihr nichts Ungehöriges unternehmt und über die Stränge schlagt.«
»Du bist ja total hops – Pensionstunte hättest du werden sollen, aber nicht Studentin.« Der Eintritt des Botanikers unterbrach Annemaries Empörung.
Lichtblauer Frühlingshimmel, durchsichtig wie Kristall, lachte mit den jungen Menschen um die Wette, die sich zur festgesetzten Zeit am Neptunsbrünnle einfanden.
»Wo habt’s denn euer Kleines g’lasse, euer Neschthäkche?« fragte Krabbe enttäuscht, als Marlene und Ilse zu zweien antraten.
»Unser Nesthäkchen?« Marlene und Ilse lachten hellauf. »Haben Sie auch schon diesen Namen für die Annemarie ausfindig gemacht? Bei uns in Berlin heißt sie im ganzen Bekanntenkreis nicht anders als ›Doktors Nesthäkchen‹«, berichtete Marlene belustigt.
»Dabei ist sie ein paar Monate älter als wir.« Als Großmutter wollte Ilse denn doch nicht mit ihren achtzehn Jahren gelten.
»Ja, wo bleibt’s denn?« Das war dem begeisterten Jüngling entschieden wichtiger als Ilses chronologische Auseinandersetzungen.
»Wieder mal unpünktlich wie meist. Sie mußte unbedingt noch die Bekanntschaft unseres Wirtes, des Herrn Kirchmäuser, der ein paar Tage über Land gewesen, machen. Und die Vroni und der Kaspar wollten sie nicht fortlassen, sie sollte durchaus mit ihnen ›Hascherle‹ spielen. Da kommt sie ja!« Marlene wies zum Burggäßle hinauf.
Das bot ein seltsames Bild. Voran im Galopp ein rosenrotes Etwas, bald sich duckend, bald springend, allem andern ähnlich, nur nicht einer wohlerzogenen, spazierengehenden jungen Dame. Dahinter jauchzend, johlend und kreischend das Vronli und das Kaschperle. Die Hunde der Nachbarschaft schlossen sich blaffend der wilden Jagd an. So spielte man »Hascherle« zum Marktplatz hinunter.
»Grüß Gott, Neschthäkche, fallen’s nit ins Brünnle.« Im Nu hatten die Wartenden die Hände zu einer festen Kette geschmiedet und hielten die dagegen Stürmende nebst ihren kleinen Verfolgern auf.
»Ja, wer hat denn hier aus der Schule geplappert?« In berechtigtem Ärger blickte die Erhitzte von der Schwarzen zur Blonden.
»Er hat’s allein herausgefunden, der Herr Krabbe, daß du so heißt – Ehrenwort!« beteuerte Ilse.
»Also, das Neschthäkche ischt’s und bleibt’s. Schaut’s nit aus wie a Taufkindle in dem rosenroten Kleidle?«
»Ach, quasseln Sie doch keine Töne!« Im echten Berliner Dialekt wies Annemarie die Huldigung Egerlings zurück.
Ilse machte ein etwas süßsaures Gesicht. Sie war ein recht hübsches Mädel bis auf die ein wenig vorstehenden Zähne. Es war doch unbedingt nicht notwendig, daß alle drei Studenten sich als getreue Vasallen zu Annemarie Brauns Füßen scharten. Herrgott, Marlene und sie waren doch auch noch da.
Die Cousine kannte eine solche eifersüchtige Regung nicht. Die beobachtete lachend, wie Annemarie sich von Vronli und Kaschperle mittels eines »Zehnerls« zu Lackritze loskaufen mußte.
Nun konnte man endlich gehen. Die Karawane setzte sich in Bewegung.
»Halt – halt – ich hab’ noch was vergessen«, rief Annemarie plötzlich.
»Was ischt’s denn – halt den Kopf?« neckte ein Jüngling.
»Nein, aber meinen photographischen Apparat, den wollt’ ich heute einweihen, und die Laute hätte ich auch mitnehmen können.«
»I hol’s!« Dienstbeflissen setzten sich Neumanns lange, dünne Beine bereits in Bewegung.
»An meine Sachen laß ich keinen Fremden ‘ran.« Bei all ihrer Liebenswürdigkeit nahm Annemarie kein Blatt vor den Mund. »Ich hol’s schon selber.« Die ganze Gesellschaft machte den kleinen Umweg durch das Burggäßle.
»Liab schaut das Häusle aus.« Neumann übertrug seine Begeisterung für das hübsche Kleeblatt auch auf das weinumrankte, bescheidene Häuschen, in dem es Wurzel geschlagen hatte.
»Das Dreimädlehaus soll’s euch zu Ehre heiße!« schlug Krabbe vor.
Egerling aber begann sofort auf der Laute, die Annemarie herbeibrachte, aus dem »Dreimäderlhaus« zu singen: »Ich schnitt’ es gern in alle Rinden ein – blim – blim – – –.« Unter diesen Klängen ging es zur Stadt hinaus über die Neckarbrücke.
»Zunächst müsse wir Tübingens Dichtervater unsere Aufwartung mache.« Egerling, der Führer, bog in die Anlagen, welche die Stadt mit wundervollen alten Platanen und Eichen umgürtete, ab. Da stand er, umbuscht von Syringen und Rotdorn, Ludwig Uhland.
Stumm schauten sie auf das Steinbild des schwäbischen Balladendichters, dessen Verse ihnen allen durch die Schulzeit hindurch das Geleit gegeben.
»Johann Ludwig Uhland, geb. am 27. April 1787 zu Tübingen, gest. am 13. Dezember 1862«, entzifferte Marlene gewissenhaft die Inschrift.
Ilses Interesse galt der künstlerischen Bildhauerarbeit.
Annemarie aber hatte mehr Freude an den farbenbunten Frühlingsblumen, mit denen die dankbare Vaterstadt noch heute das Denkmal ihres Dichters umkränzt. Sie versuchte durch das abschließende Eisengitter zu langen und sich einen Stengel Goldlack zu brechen. Ritsch – da hatte eine spitze Gitterzacke die voreilige Mädchenhand blutig geritzt.
»Das ist des Sängers Fluch!« Lachend stand Annemie von ihrem Vorhaben ab.
Die