»Du scheinst dir ein viertes Kind ins Haus genommen zu haben, Martha«, meinte er, als Annemarie mit den leeren Suppentellern wieder verschwunden war. »Wo hast du das ebenso hübsche, wie ungeschickte Mädel her?«
»Sie hat sich auf meine Annonce gemeldet. Ich weiß nicht, ob ich recht getan habe, sie ohne Zeugnisse und Empfehlungen zu nehmen. Mir kommt manches etwas abenteuerlich bei ihr vor. Aber die Augen machen solchen ehrlichen Eindruck.«
»Wie eine Hochstaplerin sieht das Mädel nicht aus«, entschied auch der Doktor.
Annemarie brachte den Spinat. Dem Kätherle mußte wieder geholfen werden, da es sonst zu viel grüne Beete auf das Tischtuch säte. Herr und Frau Doktor unterhielten sich über ein neues Bild, das ein Bekannter gekauft hatte. Es war eine Schwarzweißzeichnung. Sie waren sich nicht darüber einig, ob dieselbe von Thoma oder von Spitzweg sei.
»Das Bild ist von Thoma«, entschied da plötzlich zu ihrer größten Verwunderung das neue Kindermädel die Meinungsverschiedenheit. »Ich kenne es genau – – –« Annemarie brach plötzlich jäh ab, und ein großer grüner Klecks zierte Kätherles Lätzchen. Sie biß sich auf die Lippen. Herrgott, da war ihr der Mund mal wieder davongelaufen, wie schon so oft. Hing doch das Bild daheim in Vaters Zimmer.
»Nanu?« sagten die Herrschaften. Und dann brachen sie in ein belustigtes Lachen aus.
»Was haben wir denn da für ein gebildetes Kindermädel bekommen?« rief der Herr Doktor.
»Woher kennen Sie das Bild, Annemarie?« examinierte die gnädige Frau, wieder argwöhnisch werdend.
»Es – es hängt in dem Sprechzimmer von – von dem Herrn Doktor, wo ich früher war.« Wenn sie nur nicht weiter fragen wollten. Dann kam am Ende alles heraus.
»Sie waren schon mal bei einem Arzt, das ist mir lieb. Wie hieß er?« erkundigte sich der Herr freundlich.
»Doktor – Doktor Wohlgemuth.« Das war irgendein befreundeter Kollege des Vaters. Aber es war Annemarie durchaus nicht wohlgemut dabei.
»Wo war das?«
»In – in – in – – – ich habe den Namen des Ortes vergessen,« stieß Annemarie in plötzlichem Entschluß hervor. Nein, Doktors Nesthäkchen vermochte nicht derart zu schwindeln. Es ließ das verdutzte Kätherle mit seinem Spinatteller sitzen und lief aus dem Zimmer, nur um den unbequemen Fragen des Herrn, den forschenden Augen der Frau Doktor zu entgehen.
Trotzdem Annemarie vorher tüchtigen Hunger gehabt, vermochte sie jetzt nichts zu essen. Daran war nicht etwa die mürrische Gesellschaft von Auguste, noch der ungedeckte Küchentisch schuld. Die Aufregung über die schwierige, verwickelte Lage, in die sie sich begeben, nahm Annemarie völlig den Appetit.
Als die Kinder das Zimmer verlassen hatten, wandte sich Frau Doktor an ihren Mann. »Nun, habe ich recht, Waldemar, stimmt die Sache mit dem neuen Kindermädel?«
»Nein, da ist was nicht in Ordnung. Mir fiel gleich der Anstand auf, mit dem sie mich begrüßte, und die gepflegten weißen Hände. Daß sie eben im Begriff war, zu lügen, stand ihr auf der Stirn geschrieben. Jedenfalls noch ein unverdorbenes Ding, dem die Unwahrheit nicht über die Lippen will. Was hat sie für Sachen mitgebracht?«
»Gar keine. Sie trug ein geblümtes Bauernkleid. Außerdem hatte sie nur noch einen Rucksack bei sich. Ihr Korb sei unterwegs, hat sie mir gesagt.«
»Ich würde jedenfalls mal ihren Rucksack untersuchen, Martha.«
»Ach, Waldemar, es widerstrebt mir, heimlich an anderer Leute Sachen zu gehen.«
»In diesem Fall ist es aber notwendig, Kind. Man muß in heutiger Zeit vorsichtig sein, einen Fremden ins Haus zu nehmen. Vielleicht hat sie irgend etwas bei sich, was Aufschluß über ihre Persönlichkeit gibt.«
Während Annemarie unten in der Küche Glas und Silber abtrocknete, wurde ihr Rucksack von Herrn und Frau Doktor einer eingehenden Prüfung unterzogen. Da kamen allerdings merkwürdige Dinge zutage.
Zuerst zog Frau Doktor ein elegantes Reiseetuis heraus. »Sieh nur, Elfenbeinbürsten, Waldemar. Entweder sie hat das Ding gestohlen oder – – –« Sie vollendete den Satz nicht. Denn schon hatte sie Florstrümpfe, schwarze Lackschuhe und ein Nachthemd mit eleganter Stickerei, A. B. gezeichnet, in Händen. »Das ist kein einfaches Mädchen vom Lande.« Frau Doktor kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. »Hier ein Buch von der Lagerlöf – – –«
»Etwas merkwürdige Lektüre für ein Bauernmädchen«, warf Doktor Lange trocken ein. »Da ist ja noch ein Buch. Was ist denn das?«
»Cicero in lateinischer Ausgabe. Annemarie Braun, Obersekunda, steht darin. Begreifst du das?« Der armen Frau Doktor schwirrte der Kopf.
»Mir scheint, daß du eine Obersekundanerin als Kindermädel engagiert hast, Martha. Rudi hat ja auch schon herausgefunden, daß sie Lateinkenntnisse hat. Nähere Aufschlüsse muß sie uns selbst geben. Rufe sie doch mal.«
Annemarie erschien auf das doppelte Klingelzeichen. Sie erblaßte, als sie den Inhalt ihres Rucksacks auf dem Kinderstubentisch ausgebreitet sah.
»Möchten Sie uns erklären, wie Sie zu dem Rucksack hier kommen?« fragte der Herr mit strenger Miene.
»Es ist mein Rucksack,« war die leise Antwort.
»Das kann unmöglich stimmen. Diese Dinge gehören aller Wahrscheinlichkeit nach einer Obersekundanerin Braun. Sie haben sich nicht nur die Sachen, sondern auch den Namen derselben unrechtmäßig angeeignet. Ich werde Sie der Polizei übergeben. Die mag feststellen, wer Sie sind und wie Sie zu diesen Sachen hier kommen.«
Es wurde Annemarie schwarz vor den Augen. Ediths Puppenwagen, auf den sie gerade blickte, begann vor ihren Augen zu tanzen. Die Polizei – um Gottes willen nicht! Sie mußte die Wahrheit bekennen. Es war ja jetzt doch alles aus – alles!
»Nun?« drängte der erfahrene Arzt, der den inneren Kampf in den sprechenden Zügen des Mädchens gewahrte.
Annemarie gab sich einen Ruck.
»Ich bin Annemarie Braun aus Charlottenburg. Diese Sachen sind wirklich mein Eigentum. Ich bin auf der Fahrt nach Hause zu meinen Eltern durch den Eisenbahnerstreik hier in Sagan liegen geblieben. Da ich meine Handtasche, die mein ganzes Geld enthielt, verloren habe, war ich gezwungen, irgendeine Stellung anzunehmen, um Unterkunft zu haben und nicht zu verhungern. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Sie getäuscht habe. Aber ich wußte mir keinen anderen Rat.« Annemaries zuerst stockender Bericht wurde nach und nach freier. Es war ihr eine ordentliche Wohltat, sich alles vom Herzen reden zu können. So – rausgeworfen wurde sie ja nun auf jeden Fall.
Da fühlte sie zu ihrem Erstaunen eine gütige Frauenhand nach der ihren greifen. »Armes Kind,« sagte Frau Doktor mit Tränen in den Augen, »was haben Sie Schweres durchgemacht. Hätten Sie nur gleich Vertrauen zu mir gehabt.«
»Ich mußte mir doch das Reisegeld verdienen, und ich glaubte, ich werde nicht genommen, wenn ich sage, daß es nur für kurze Zeit ist,« erklärte Annemarie erleichterten Herzens.
»Haben Sie die Eltern benachrichtigt, wo Sie geblieben sind?« erkundigte sich der Doktor.
»Es war unmöglich – der Telegraphendienst war ebenfalls gesperrt. Die Eltern werden in großer Sorge um mein Ausbleiben sein.«
»Das will ich meinen. Der Fernsprechverkehr ist aber bereits wieder aufgenommen. Haben die Eltern Telephon?«
»Freilich – ach, wenn ich doch anläuten könnte!«
»Wie ist Nummer und Name?«
Annemarie nannte beides.
»Braun – Doktor Ernst Braun, Charlottenburg – mit dem habe ich ja in Heidelberg zusammen studiert,« rief Doktor Lange lebhaft. »Und jetzt bekomme ich die Tochter des alten Studienfreundes als Kindermädel ins Haus. Der Lauf der Welt ist schnurrig.« Er eilte sofort ans Telephon, um das Ferngespräch anzumelden.
Bald