»Kommen Pollen, werrden nemmen Gutt hier, werrden nemmen Dorrf, werrden nemmen Eisenbahn. Kann gutte Frräulein nicht merr fahrren nach Haus zurr Maminka.«
»Ich danke Ihnen vielmals, Maruschka. Aber so schlimm wird’s ja nicht gleich werden.« Mit der Sorglosigkeit der Jugend schob Annemarie jede Möglichkeit einer frühzeitigen Unterbrechung ihres herrlichen Aufenthaltes von sich. Quatsch – es wurde hier in der Grenzgegend so viel von heranrückenden polnischen Soldaten gefaselt! Das war sicher wieder eines der beliebten Gerüchte. Sorglos schlief Doktors Nesthäkchen ein.
Als Annemarie am andern Morgen zum Frühstück herunterkam, war sie höchlichst verwundert, auch den Hausherrn, der sonst schon längst seinen Morgenritt machte, dort anzutreffen.
»Onkel Heinrich, du bist noch da? Fein! Da können wir nachher zusammen aufs Feld,« rief sie lebhaft.
»Du wirst heute nicht mit aufs Feld können, Kind.« Onkel Heinrich hatte tiefe Falten zwischen den hellen Augenbrauen.
»Warum denn nicht?« Annemaries Augen wurden rund und erstaunt. Sie wanderten von Onkel Heinrichs finsterem Gesicht zu Tante Käthchen. Nanu? Hatte Tante Käthchen geweint?
»Annemie, es ist amtlich Nachricht gekommen, daß starke polnische Truppen vorrücken auf Arnsdorf. Sie werden das Gut besetzen und uns von unserm deutschen Vaterland gänzlich abschneiden.« Tante Käthchen, die sanfte, rief es weinend in heißer Empörung.
»Ach, Tante Käthchen, du hast doch selbst so oft gesagt, das sind alles nur dumme Gerüchte, denen man nicht Glauben schenken muß,« tröstete Annemarie. Und die nächtliche Warnung der Maruschka? Ach was, die hatte eben auch von dem Gerücht gehört.
»Diesmal ist es Ernst. Es ist amtlich gemeldet,« mischte sich Onkel Heinrich hinein. »Und darum, Kind, können wir unter den bevorstehenden unsicheren Verhältnissen die Verantwortung deinen Eltern gegenüber nicht tragen. Abgesehen davon, daß wir nicht wissen, wie lange überhaupt noch Züge abgelassen werden. So schwer es uns wird, Annemarie, Tante Käthchen und ich halten es für richtig, daß du sogleich deine Sachen packst und deine Eltern telegraphisch in – – –«
»Was – rausschmeißen wollt ihr mich?« unterbrach ihn da das Backfischchen mit zuckenden Lippen. Onkel Heinrich und Tante Käthchen, die sie nie wieder hatten hergeben wollen, wollten sie heute schon los sein? Annemarie traute ihren Ohren nicht.
»Annemiechen, Liebling, du glaubst ja nicht, wie schwer wir uns zu diesem Schritt entschlossen haben.« Tante Käthchen zog das erstarrte Mädchen zärtlich zu sich heran. »Aber es muß sein. Wir können nicht mehr für deine Sicherheit hier einstehen. Am liebsten würden wir dir auch Elli und Bübchen mitgeben. Aber sie will ja durchaus nicht von uns fort.«
»Ich auch nicht. Ich will auch bei euch bleiben, Tante Käthchen. Ich graule mich kein bißchen vor den Polen. Schmeißt mich doch nicht raus – bitte – bitte!« Schwer war’s, diesen lieben, bettelnden Blauaugen etwas abzuschlagen.
Aber Onkel Heinrich schüttelte trotzdem den Kopf. »Du kannst möglichenfalls auf Monate von deinen Eltern abgeschnitten sein. Das dürfen wir nicht riskieren. Du packst gleich deine Sachen und fährst mit dem Elfuhrzug. Bis Breslau begleitet Herbert dich und setzt dich dort in den Berliner Zug. Es tut uns leid, Kind, aber – es ist nicht das schlimmste und größte Opfer, was die Polen von uns fordern werden.« Onkel Heinrich verließ dröhnenden Tritts die Veranda.
Zum erstenmal seit ihrem Arnsdorfer Aufenthalt wollte das Frühstück nicht rutschen. Annemarie würgte das gute Landbrot hinunter und der goldene Honig, den sie sonst so gerne gemocht, widerstand ihr geradezu.
Es half nichts. Der Reisekoffer wurde vom Boden heruntergeholt. Elli half Annemarie beim Einpacken, während Tante Käthchen eine Futterkiste für die Eltern und den Mundvorrat für die Fahrt zurecht machte.
Wie im Traum zog alles an Annemarie vorüber, unwirklich, als ob sie es gar nicht selbst erlebte. Da war Kutscher August, der den Koffer auf den Wagen lud. Sie lag im Arm von Tante Käthchen, die sie gar nicht wieder loslassen wollte. Bübchens Stimme rief: »Mie tommen – Mie tommen.« Irgendwo wedelte Waldmanns goldbraunes Dackelschwänzchen in blauer Luft.
Dann zogen Wiesen, Kühe, Felder vorüber: dort winkten die Garbenpuppen, die sie eigenhändig gebunden, ein Lebewohl. Der rote Kirchturm von Arnsdorf – schwarzer Dampf aus brüllendem Lokomotivenschlund – durcheinanderhastende Menschen. Durch einen Tränenschleier sah Annemarie Onkel Heinrichs breite Gestalt und Peters schlanke auf dem Bahnsteig kleiner und kleiner werden – immer kleiner – eine Kurve – so, nun war nichts mehr von Arnsdorf zu erblicken.
Da zog Annemarie ihr Taschentuch hervor und weinte bitterlich.
Herbert wußte nicht recht, was er mit dem heulenden Backfisch anfangen sollte. Annemaries ungestümer Schmerzausbruch war ihm peinlich. Die Kleinbahn war überfüllt. Jeder wollte noch mit dem letzten Zuge fort, ehe die Polen kamen.
Breslau – nun mußte Herbert das Cousinchen allein seinem Schicksal überlassen.
»Leb wohl, Annemarie, und wenn wir die Polen rausgeworfen haben, kommst du wieder,« rief er, neben dem schon fahrenden Zuge entlangtrabend, noch tröstend.
Annemie schüttelte traurig den Kopf. Wann würde das sein? Es war ihr, als ob mit dem Vetter das letzte Zipfelchen der goldenen Sommertage auf dem Lande ihr entwich.
Der beste Trost bei einem Abschiedsschmerz pflegt meist der Futterkorb zu sein. Als Annemarie das erste Ei und die leckere Schinkensemmel beim Wickel hatte, ward ihr Schmerz stiller. Den Hühnern, die ihr das Ei gespendet hatten, hatte sie morgens das Futter gestreut. Der Schinken stammte sicherlich von dem Ahnherrn eines der rosigen Ferkelchen, die sich zu Annemaries Ergötzen stets so drollig im Sande einbuddelten. Und die Pfirsiche hatte sie selbst gestern vom Spalier gepflückt. Zärtlich strich Annemarie über ihren Samt. Sie fühlten sich so weich an wie Bübchens Wange.
Immer weiter ratterte der Zug, legte eine immer größere Entfernung zwischen ihr und ihrem Ferienglück. Wie mochte es in Arnsdorf werden, wenn die Polen kamen? Die Mitreisenden erzählten alles mögliche von polnischen Übergriffen, Härten und unerträglichem Druck in bereits besetztem Gebiet. Das junge Mädchen konnte sich das nicht recht vorstellen. Maruschka war doch so gut zu ihr gewesen. Und Vera hatte doch auch polnisches Blut in den Adern. Was würde Margot bloß sagen, wenn sie plötzlich wieder an die Balkonwand pochte? Und die Eltern! Wie würden die sich freuen, ihre Lotte wieder zu haben. Annemarie, die noch eben so traurig gewesen, fühlte mit Erstaunen, wie die Freude der Eltern, die sie sich ausmalte, warm in ihr eigenes Herz zurückstrahlte. Sie freute sich ja auch, sie alle wiederzusehen. Wenn Onkel Heinrich in seiner Aufregung nur nicht vergessen hatte, den Eltern zu telegraphieren, denn sie kam nachts in Berlin an.
Geld genug hatte sie zwar, um sich vom Bahnhof eine Droschke leisten zu können. Für alle Fälle hatte Onkel Heinrich sie noch mit einem Hundertmarkschein versehen. Der war sorgsam in ihrem Handtäschchen untergebracht. Krampfhaft hielt sie dasselbe in der Hand und sah jeden Mitreisenden mißtrauisch an, ob er auch keine bösen Absichten gegen ihren Schatz hege.
Allmählich schwand der Argwohn. Man freundete sich miteinander an. Dies ungekünstelte, freundliche Wesen des reisenden Backfisches gewann ihm auch hier bald die Herzen.
Das Riesengebirge wurde mit blaugrauen Höhenzügen sichtbar. Liegnitz mit seinen alten Häusern zog vorüber. Wieder Wälder, Wiesen, Windmühlen, rote und weiße Kopftücher zwischen goldenen Halmen.
Abendrosen blühten schon am westlichen Himmel in purpurner Pracht auf. Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle von Sagan ein. Nun war es nicht mehr weit bis Berlin. Nur noch dreiundeinhalb Stunden. Annemarie konnte schon die Zeit nicht mehr erwarten.
Da trat der Schaffner in ihr Abteil. »Sagan – alles aussteigen – der Zug fährt nicht weiter.«
Nanu – was sollte denn das heißen?
Da war der Beamte auch schon davon, um im nächsten Abteil dasselbe zu melden.
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