Aber Annemarie bemerkte das nicht in ihrer Aufregung. Die sah nur den Stier. Das Tuch abreißen, unter dem grünen Schürzchen verstecken und mit einem kühnen Satz den am Weg entlang plätschernden Bach überqueren, um die jenseitige Wiese zu gewinnen und dadurch der Wut des Stieres zu entgehen, war das Werk einer Sekunde.
Pardauz – die Beine waren nicht lang genug. Hochauf spritzte das Wasser. Doktors Nesthäkchen lag im Bach und konnte sich von der Hitze des Weges abkühlen.
Am mit Vergißmeinnicht besäumten Bachrand standen die beiden Herren und lachten – lachten – – –
»Annemie – der Stier – der Stier ist ja eine Kuh! Du bist vor einer Kuh ausgekniffen!« Peter johlte vor Vergnügen.
»Das kann ich doch nicht wissen, du Affenschwanz! Hilf mir lieber aus dem Wasser heraus, anstatt so zu blöken.« Kein Mensch konnte das Annemarie verdenken, daß sie aufgebracht war.
Eine triefende Wassernixe tauchte aus dem Silbernaß auf, mit kläglichen Augen, die ebenso blau waren, wie die Vergißmeinnicht am Bach.
»Stell’ dich nur in die Prallsonne, Annemie. Wenn wir zurückkommen, holen wir dich hier wieder ab, bis dahin wirst du wohl trocken sein.« Ja, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen.
»Nichts da – linksum kehrt, Mädel! Und schleunigst in trockene Sachen, daß es keinen Schnupfen gibt,« kommandierte Onkel Heinrich.
»Was – ich soll nicht mit zur Erntearbeit?« Annemarie war grenzenlos enttäuscht.
»Vogelscheuchen hat’s schon genug im Roggenschlag.« Nein, so ungalant war der Klaus nicht mal wie der Peter!
Es half nichts, Annemarie mußte zurück.
»Soll ich dir vielleicht das Geleit geben und dich als Ritter ohne Furcht und Tadel vor Stieren und ähnlichen Bestien beschützen?« erkundigte sich der Jüngling noch mit tiefer Verbeugung.
Doktors Nesthäkchen würdigte ihn keiner Antwort mehr. Beschleunigten Schrittes, den Kopf zur entgegengesetzten Seite gewandt, schielte es beklommen zu den gemütlich wiederkäuenden Vierfüßlern hinüber.
Am Ende war doch ein Stier darunter!
9. Kapitel
Unvorhergesehenes
In der dritten Woche weilte Annemarie nun schon auf Gut Arnsdorf. Sie hatte inzwischen gelernt, nicht in jeder harmlosen Kuh einen wütenden Stier zu wittern. Sie war mit zur Feldarbeit hinausgezogen und hatte sich an der scharfen Sense nur wenig in den Finger geschnitten. Trotz brennender Julisonne, hatte sie fleißig beim Schichten und Binden der Garben geholfen. Ihre Garbengruppen sahen zwar etwas erholungsbedürftig aus – »wie verhungerte Großstädter,« meinte Peter – aber sie hatte das Kunststück, das schwieriger schien, als die schwerste mathematische Ausrechnung, doch fertig gebracht.
»Mädel, du gibst noch mal einen ganz tüchtigen Inspektor ab«, äußerte sich Onkel Heinrich anerkennend. »Wie ist’s, soll ich dich in Brot und Lohn nehmen?«
»Vater braucht mich zur Assistentin, weil unsere Jungs nicht Medizin studieren wollen. Ich hab’s Vater schon eher versprochen, sonst gern, Onkel Heinrich.« Annemarie nahm die Sache ganz ernst.
Auch Tante Käthchen war sie in der Einkochzeit in Gemüse-und Obstgarten mit gutem Willen zur Hand gegangen. Tante Käthchen hatte das übermütige, frische Mädelchen so lieb gewonnen, daß sie es überhaupt nicht wieder hergeben wollte. »Dich geb’ ich nicht wieder heraus, du mußt bei mir bleiben, mein Liebling, wenn Elli und Bübchen für immer nach Kiel ziehen«, sagte sie oft.
»Kannst mich ja heiraten«, schlug Peter vor.
»So dämlich – nee, solchen Frechdachs mag ich nicht zum Manne«, lehnte Annemarie deutlich ab.
»Wie ist’s denn mit mir?« neckte Herbert.
»Na, du wärst erst der Richtige – ein Faultier ist noch schlimmer als ein Frechdachs.« Trotz dieser täglichen Wortkriege und Hänseleien verstanden sich die Vettern mit ihrem Cousinchen recht gut.
Am liebsten aber von allen aus Gut Arnsdorf hatte unbedingt Klein-Bübchen die Annemarie. Noch lieber als der Waldmann, trotzdem der ihr auch überall nachlief. Bübchen wollte sich nur noch von Annemarie füttern lassen. Annemie mußte ihm sein Fläschchen geben, ihn waschen und zu Bett bringen. Wenn Bübchen die »Mie« – so rief er sie – nur von weitem sah, dann war er nicht mal mehr bei der Mutter zu halten. »Was soll das bloß werden, wenn mein Kindermädel wieder in Berlin ins Gymnasium geht?« jammerte Elli jetzt schon.
»Bis dahin ist ja noch schrecklich lange Zeit,« tröstete Annemarie. Vorläufig lagen noch Wochen voll Sonnengold und ungebundener Freiheit vor Doktors Nesthäkchen.
Jeden Morgen vor dem Spiegel beim Kämmen – denn sonst hatte man in Arnsdorf keine Zeit vor dem Spiegel zu stehen – stellte Annemarie triumphierend fest, daß sie am verflossenen Tage wieder ein gut Teil brauner gebrannt war. Wenn das noch einige Wochen so weiter ging, würde sie selbst Marlene und Ilse den Preis als Mohrenkopf streitig machen.
Merkwürdig war, daß Annemaries liebenswürdiges Wesen selbst die polnischen Feldarbeiter, die brummig und widerwillig ihre Pflicht taten, bezwang.
»Laß dich nicht mit der Sorte ein, gehe ihnen möglichst aus dem Wege, Kind. Sie führen nichts Gutes im Schilde,« hatte Tante Käthchen gewarnt.
Aber Annemarie war gewöhnt, jeden freundlich zu grüßen. Ihre strahlenden Blauaugen hatten es selbst den polnischen Tagelöhnern angetan. Und vielleicht noch mehr ihr rosenrotes Miedertüchlein mit den bunten Bauernblumen, das stach den polnischen Weibern besonders in die Augen. Als die junge Großstädterin eines Morgens beim Garbenaufrichten tüchtig mit angriff, trat eine Polin mit blitzenden, schwarzen Augen an sie heran.
»Ah – schöner Tuch dies – schöner Tuch!« sagte sie bewundernd und fuhr mit der Hand streichelnd über das leuchtende Tuch.
Wollte sie ihr das Tuch rauben? Annemarie warf einen sichernden Blick in die Runde. Die anderen Arbeiter waren ein ziemliches Stück von ihnen entfernt. Und außerdem waren es fast ausschließlich Polen, die würden ihr kaum beistehen. Da riß Annemarie kurz entschlossen das Tuch ab und reichte es der Überraschten.
»Möchten Sie das schöne Tuch gern haben? Hier, bitte, ich schenke es Ihnen.«
Die polnische Frau war ganz außer sich vor Freude. »Ah, gutte Frräulein – schöne Frräulein –« Sie konnte sich gar nicht genug tun in dankbaren Handküssen. Von diesem Tage an war Annemarie der erklärte Liebling der polnischen Arbeiterschaft.
»Eine kleine Satanshexe,« schmunzelte Onkel Heinrich, »selbst mit den Polacken ist sie gut freund.«
Diese Freundschaft sollte sich ganz merkwürdig beweisen.
An einem Juliabend war’s. Die Linden dufteten süß und schwer. Annemarie stand an ihrem Giebelfenster und löste ihr reiches, blondes Haar für die Nacht. Die Luft war köstlich. Das junge Mädchen konnte sich gar nicht entschließen, die Fensterläden zuzusperren.
Da löste sich ein dunkler Schatten von der mondbeschienenen weißen Hauswand.
»Frräulein, gutte Frräulein – schöne Frräulein – Maruschka will sprrechen zu gutte Frräulein,« wisperte es mit dem Nachtwind herauf.
»Was wollen Sie denn?« Annemarie fragte es laut. Sie hatte keine Furcht, aber ganz behaglich war ihr doch nicht zumute.
»Ah – sprrechen nicht laut – sprrechen leise – ganz leise – Maruschka will sagen gutte Frräulein, was gegeben hat armes Polin schöne rrote Tuch, wenn gutte Frräulein will fahrren nach Haus zur