Lachend machten sich die jungen Straßenkehrerinnen ans Werk. Hei – da wurde einem bald warm, so scharf auch der Wind vom Kanal her blies. Die Augen blitzten, die Wangen glühten, und die jungen Arme arbeiteten mit Anspannung aller Muskeln. Das schaffte.
»Ilse, rück’ mir nicht so auf die Pelle, sonst streichle ich dich am Ende mit meiner Schneeschaufel,« rief Annemarie durch das Schneegestöber.
»Annemarie, wo bist du? Ich nicht kann machen auf die Augens bei das Schneesturm,« hörte man Veras Stimme.
»Kinder, meine Hände sind ganz klamm!« Marianne hauchte ihre roten Finger an.
»Und meine Füße sind schon Eisbein mit Sauerkraut,« lachte Marlene.
»Hier, nimm meine Überschuhe, ich habe ganz warme Füße.« Nun war es doch gut, daß Annemarie den Wunsch der Mutter befolgt hatte.
»Nein – auf keinen Fall, dann erkältest du dich – – –«
»Quatsch keine Opern – Doktorblut hält warm!« Annemarie hatte bereits die Schuhe abgestreift und sie selbstlos der Kränzchenschwester hingesetzt.
Ein Weilchen hörte man nichts weiter als das Hacken der Schaufeln, das Schurren der Schneebesen und das Heulen des Windes. Das Bahngleis wäre unter den gemeinsamen Anstrengungen fast schon freigeschaufelt gewesen, wenn – ja, wenn nicht immer neue Schneeflocken aus schweren grauen Wolkensäcken herabgewirbelt wären.
»Kinder, das ist ja die reine Sisyphusarbeit!« Herzklopfend machte Marlene eine Pause. »Einen Felsblock den steilen Berg hinaufschleppen, ist dagegen Kinderspiel.«
»Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor!« zitierten die Mädels ihren Homer.
»Ich denke, wir machen mal eine kleine Pause. Arbeit macht zwar das Leben süß, aber die Baisertorte hier im Fenster beim Konditor würde es entschieden noch süßer machen. Wie sind eure Taschengeldverhältnisse?« Marianne, ein Naschkätzchen, schaute begehrlich auf die verlockende Torte hinter der Glasscheibe der großen Konditorei, vor der sie gerade schaufelten.
»Ist ja bloß Eierschaum-Schlagsahnenersatz« – machte Annemarie verächtlich.
»Hierr, du haben eine süßes weiße Baiser, da du können lecken.« Vera warf ausgelassen Marianne einen Schneeball an das halbgeöffnete Mäulchen.
»Na warte, du bekommst von mir sogar einen Eisbaiser.« Marianne erwiderte das Geschoß, die andern blieben natürlich auch nicht untätig dabei. Bald entwickelte sich eine lebhafte Schneeballschlacht unter den Kränzchenschwestern. Hüben und drüben sausten die Kugeln. Mit Lachen, Kreischen und Johlen wurden sie in Empfang genommen.
»Ja, was soll denn das heißen – schämt ihr euch nicht, euch so unerzogen zu betragen? Wer hat eben den Schneeball geworfen?« Aus dichtem Flockengeriesel tauchte ein Schneemann mit empörter Miene auf. Er entpuppte sich beim Näherkommen als Fräulein Neubert mit schiefgerutschtem Pelzbarett. Das Schneegeschoß war gegen dasselbe geflogen.
Die Mädchen in ihrer Ausgelassenheit kicherten verstohlen. Keine antwortete.
»Natürlich Annemarie Braun mitten darunter. Da kann ich mir schon denken, wer der Anstifter gewesen ist.«
»Wieso denn gerade ich?« Annemaries Gerechtigkeitsgefühl lehnte sich auf.
Der aufgebrachte Schneemann überhörte die Frage. »Ihr seid zum Schneeschippen beordert worden, und nicht, um hier Dummheiten zu treiben. Geht an die Arbeit und laßt euch nicht einfallen, euch wieder mit solchem kindischen Unfug zu befassen.« Das schiefgerutschte Pelzbarett nickte ärgerlich zu Fräulein Neuberts tadelnden Worten.
Vor seine Tür, unbemerkt von den jungen Mädchen, war der dicke Konditor getreten. Schlohweiß wie seine Umgebung stand er da und schaute sich das muntere Treiben vor seinem Laden schmunzelnd an. Auch die Strafpredigt der Lehrerin hatte er vernommen. Die frischen jungen Dinger, die eben noch so übermütig gejubelt hatten, und nun wie begossene Pudel die Köpfe senkten, taten dem guten Mann leid.
»Na, junge Fräuleinchens, weil ihr vor meinem Geschäft so schön den Schnee fortgekehrt habt, lade ich euch zu einer Tasse heißer Schokolade ein, damit ihr euch ’n bißchen inwendig aufwärmt.« Er hatte die Worte an Annemarie Braun gerichtet, um sie für den Tadel der Lehrerin zu trösten.
»Famos!« Das reizende Gesichtchen strahlte vor Begeisterung.
»Bringen Sie man noch zwei Freundinnen mit.« Der biedere Mann weidete sich an dem unverhohlenen Glück des Backfischchens.
»Ach, Herr Konditor, wir sind fünf Kränzchenschwestern hier. Bitte, bitte, erlauben Sie doch, daß die andern beiden auch mitkommen. Wir geben ihnen von unserer Schokolade was ab.« So freimütig klang’s, und die blauen Vergißmeinnichtaugen schauten so bittend drein, daß der Konditor wohlwollend nickte.
»Aber jewiß doch, jewiß doch. Das Kränzchen muß beisammen bleiben. Immer rein in de jute Stube, meine Damens.«
»Du, Annemarie, aber was wird Fräulein Neubert dazu sagen! Wollen wir nicht erst um Erlaubnis bitten?« warf Marlene halblaut ein. Trotzdem die Schokolade sehr verlockend war, das Pflichtbewußtsein meldete sich.
»Ehrpusseliges Ding!« schalt Annemarie. »Das könnte uns fehlen. Die Neubert ist ja jetzt drüben auf der anderen Seite.«
»Und wenn sie uns Schokolade trinken sieht, wird sie höchstens neidisch,« meinte auch Marianne und leckte sich schon den Mund im Vorgefühl des kommenden Genusses.
Marlene wurde überstimmt. Sie folgte den Kränzchenschwestern in den Konditorladen. Aber ganz wollte sich ihr Gewissen nicht zum Schweigen bringen lassen. Die anderen nahmen inzwischen seelenvergnügt in dem Damensalon an dem kleinen Marmortischchen, das der Konditor ihnen anwies, Platz. Nicht lange dauerte es, da standen fünf Tassen duftende Schokolade vor den Backfischchen. Denn das brachte der freundliche Konditor doch nicht fertig, zwei von ihnen leer ausgehen zu lassen.
»So, nun laßt es euch schmecken, junge Herrschaften!« sagte er und stellte die große Baisertorte aus dem Fenster mitten aus den Tisch vor die fünf.
»Was – die soll auch für uns sein?« Annemarie riß die Augen noch weiter auf als sonst.
»Na, janz werdet ihr sie wohl nicht schaffen.« Der Konditor begann mit breitem Lachen die Torte in Stücke zu schneiden. »Das schmeckt nach der Anstrengung, was?«
Und ob es schmeckte! Der gute Mann brauchte wirklich nicht zu fragen. Das sah er den eifrig Schmausenden an, den schleckenden Mäulchen und den dankbaren jungen Augen. Selbst Marlenes Gewissen mußte solchen Herrlichkeiten gegenüber sich verkriechen.
Doch ach! – »Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil.« Es nahte das Verderben.
Keine der fröhlich Schmausenden hatte acht auf die Türschelle. Erst als eine weibliche Stimme draußen am Ladentisch ein Viertel Hustenbonbons verlangte, hoben sich jäh die Mädchenköpfe. Erschreckte Augen sahen sich an. Marlene blieb der Bissen im Halse stecken. O Gott – Fräulein Neubert in höchsteigener Person. Warum gab es denn keine Tarnkappe, um sich unsichtbar zu machen! Wenn das Verhängnis doch bloß an ihnen vorübergehen wollte!
Nein – Fräulein Neuberts Augen entging nichts, sie sahen alles, auch wenn sie nicht die Eulengläser trugen. Beim Verlassen des Ladens warfen sie durch die offene Tür einen Blick in den Nebenraum und – blieben starr an dem Marmortischchen der fünf haften.
Marlene hatte sich trotz ihres Schreckes höflich erhoben. Die anderen folgten herzklopfend ihrem Beispiel. Nur Doktor Brauns Nesthäkchen blieb ruhig sitzen und steckte das Näschen in die Schokoladentasse. Aber diese Vogel-Strauß-Politik half ihr wenig. Schon stand Fräulein Neubert vor den Erschreckten.
»Möchtet ihr mir vielleicht erklären, was das bedeuten soll, daß ihr, anstatt eure Pflicht zu erfüllen, hier heimlich euer Taschengeld vernascht?« begann sie mit gedämpfter, aber gewitterschwüler Stimme.