»Eingeladen – von wem?« Die Lehrerin schien ihren Worten nicht recht Glauben zu schenken.
»Von mir,« mischte sich der Konditor da plötzlich in das Verhör. »Was ich bin, Karl Aujust Hirsekorn, ich habe die jungen Damens mit Verlaub zu einem Täßchen Schokolade einjeladen, weil sie mir den Schnee so brav vor meiner Tür fortjeschaufelt haben. Und wenn das Fräulein vielleicht auch ein Täßchen genehmigen möchte, es soll mir nicht darauf ankommen.« Der weltkluge Mann glaubte auf diese Weise am schnellsten die Wogen des Zornes zu glätten, und seine jungen Freundinnen vor einer weiteren Standpauke zu bewahren.
Aber da kannte er Fräulein Neubert nicht. Die schüttelte hoheitsvoll das Haupt, auf dem die Pelzmütze noch immer schief thronte, und sprach mit gebieterischer Handbewegung: »Ihr verlaßt augenblicklich die Konditorei und begebt euch unverzüglich nach Hause. Alles andere wird sich morgen in der Schule finden.«
Das klang so unheilverkündend, daß Marlene sofort mit scheuem Gruß davonschlich. Ilse, ihr getreuer Schatten, natürlich hinterher. Vera und Marianne warfen schmerzliche Abschiedsblicke auf die noch recht umfangreiche Baisertorte. Nur Annemarie hatte so viel Geistesgegenwart, das halbe Stück Torte, das sie noch auf ihrem Teller hatte, trotz des flüssigen Eierschaums in der Manteltasche verschwinden zu lassen. Dann wandte sie sich höflich an den Konditor.
»Herr Hirsekorn, ich danke Ihnen noch vielmals, auch im Namen meiner Freundinnen, für Ihre feine Bewirtung.«
»Is jern jeschehen – recht jern jeschehen, Fräuleinchen. Und wenn ’s morjen wieder schneit, könnt ihr euch wieder eine Tasse Schokolade mit Schippen verdienen!«
Ach, Doktors Nesthäkchen sowohl wie den Kränzchenschwestern sollte der Appetit aus Konditor Hirsekorns Schokolade gründlich vergehen.
3. Kapitel
Doktors Nesthäkchen gründet einen Schülerrat
»Wenn doch bloß die Literaturstunde bei Fräulein Neubert erst vorüber wäre,« rief Ilse Hermann am nächsten Tage aufgeregt.
Marlene Ulrich, an welche ihre Worte gerichtet waren, nickte nur stumm. Sprechen konnte sie vor Beklommenheit nicht. Ganz blaß sah das arme Mädchen aus. Sie hatte in der Nacht nur wenig geschlafen in banger Erwartung, was wohl nach dem gestrigen Konditoreibesuch noch erfolgen würde. Allgütiger – wenn Fräulein Neubert ihnen ihre Versetzungszensuren nach Obersekunda verdarb!
Marianne, Vera und Annemarie hatten ebenfalls die Köpfe zusammengesteckt.
»Seid doch nicht solche Banghasen, Kinder!« Unbekümmert biß Annemarie Braun in ihr Frühstücksbrot. »Was soll denn nachkommen? Höchstens noch eine erneute Auflage des gestrigen Donnerwetters. Na meinetwegen – ich habe ein Elefantenfell.«
Der Eintritt der gefürchteten Lehrerin machte dem halblauten Gespräch, dem die Klasse voll Interesse gelauscht, ein Ende.
Marlene konnte sich kaum von ihrem Sitz erheben, so zitterten ihr die Knie. Vera rückte unbehaglich auf ihrem Platz hin und her.
Fräulein Neubert schritt gravitätisch mit gemessenen Schritten zum Katheder. Dort oben blieb sie stehen und blickte durch die Eulenbrille stumm auf die Mädchenschar, von der sich hier und da eine hinter der Vorihrsitzenden verkroch.
»Lieber Gott, laß sie doch zum Literaturbuch greifen! Ich kann zwar sehr wenig von den mittelalterlichen Dichtern, aber immerhin besser, als wenn sie noch einmal die Soße von gestern aufwärmt,« betete Marianne Davis im innersten Herzen.
»Ich habe der Untersekunda eine Mitteilung zu machen, eine recht betrübende,« begann da Fräulein Neubert. Das hörte sich ganz und gar nicht nach Literatur des Mittelalters an. Wo sollte das hinaus? Fünf bange Seelen fragten es sich bedrückt.
»Mehrere Schülerinnen der Untersekunda,« fuhr Fräulein Neubert fort, »sind gestern ungehorsam gewesen.« Die Eulenaugen schienen die fünf jungen Missetäterinnen zu durchbohren. Besonders auf dem rosigen Gesicht Annemaries blieben sie haften. »Trotz meines Gebotes, ihre Pflicht beim Fortschaffen des Schnees zu erfüllen und keine Allotria zu treiben, habe ich sie schlemmend in einer Konditorei ertappt. Ich will hier gar nicht von der Unschicklichkeit reden, daß Schülerinnen ohne Begleitung eines Erwachsenen eine Konditorei aufsuchen. Lediglich von dem Ungehorsam, der verdient eine exemplarische Strafe –« Marlene Ulrich wurde so weiß wie der Batistkragen an ihrem Kleide.
Wieder eine sekundenlange Pause. Den armen Dingern schien sie Stunden zu dauern.
»Ich sehe mich also genötigt, die betreffenden fünf Schülerinnen wegen Ungehorsam unter Tadel zu schreiben und ihnen auf dem Zeugnis im Betragen Nummer drei zu geben – – –« Lautes Weinen unterbrach die Rede.
»Ach, Fräulein Neubert, liebes Fräulein Neubert!« Das war Marianne Davis.
»Es soll nicht wieder vorkommen – ganz gewiß nicht.« Ilse Hermann schluchzte zum Gotterbarmen.
Marlene Ulrich sprach kein Wort. Sie biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten, aber kein Laut kam darüber.
Vera hatte die ganze Tragweite der Worte Fräulein Neuberts noch nicht recht begriffen. Sie weinte mit, weil die anderen weinten.
Zwei Mädchenhände aber hatten sich zornig zu Fäusten geballt, und ein roter Mund hatte empört die Worte herausgestoßen: »Na, das ist aber stark!«
»Hat hier eine noch etwas zu sagen?« Die Eulenbrillengläser durchbohrten den vorlauten Backfisch.
Die strahlenden Blauaugen Annemaries senkten sich nicht. Sie hielten der Eulenbrille stand.
Auch jetzt schwieg Doktors Nesthäkchen nicht, trotzdem die neben ihm sitzende Vera es beschwörend zupfte, doch bloß den Mund zu halten. Heulen, nein, das tat Annemarie nicht. Aber mit ihrer Meinung hielt sie nicht zurück.
»Wir haben den Tadel nicht verdient, Fräulein Neubert,« sagte sie mit lauter Stimme, die nur vor Entrüstung zitterte. »Wir waren weder ungehorsam, da Sie uns ja nicht verboten hatten, in die Konditorei zu gehen, noch haben wir etwas Unschickliches getan. Der Konditor wollte sich uns für das Schneeschippen erkenntlich zeigen und uns bei der Kälte etwas Warmes zukommen lassen. Meine Eltern haben sich darüber gefreut und durchaus nichts Ungehöriges dabei gefunden.« Doktors Nesthäkchen atmete tief auf. So – nun wußte Fräulein Neubert wenigstens Bescheid.
Die Klasse sah halb mit Bewunderung, halb mit Besorgnis auf die kühne Sprecherin. Au weh – was würde jetzt kommen? Alles hielt den Atem an.
»Na, das ist wirklich stark!« Fräulein Neubert brauchte, ohne es zu wissen, Annemaries Ausdruck von vorhin. »Du willst deiner Lehrerin Vorschriften machen? Kein Wort mehr! Was die Eltern zu Hause für richtig befinden, geht mich nichts an. Ich habe dafür zu sorgen, daß die Schuldisziplin nicht verletzt wird. Und das tue ich! Erledigt! Wo waren wir voriges Mal stehen geblieben?«
»Bei Johann Fischart,« rief es hier und dort. O weh, heute mußte sich jede zusammennehmen. Heute war mit Fräulein Neubert nicht gut Kirschen essen.
Erledigt? Für Annemarie war die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Trotzig warf sie den Blondkopf zurück. So ’ne Ungerechtigkeit – so ’ne haarsträubende Ungerechtigkeit! Aber das ließ sie nicht stecken. Ganz gewiß nicht. Sie ging zum Direktor und beschwerte sich. Oder – – – Annemarie zog die Stirn kraus, ein Zeichen, daß sie angestrengt nachdachte. Aber nicht Johann Fischart und seinem glückhaften Schiff von Zürich, das die Lehrerin mit der Klasse durchnahm, galten ihre Gedanken. Die wanderten ganz wo anders hin.
Hatte Klaus nicht erzählt, daß in seinem Gymnasium von den Jungen Schülerräte gebildet worden waren? Annemarie hatte eigentlich nicht viel davon begriffen. Nur soviel war ihr klar geworden, daß die Schüler durch ihren Schülerrat Beschwerde über Lehrer erheben konnten. »Jetzt lassen wir uns nichts mehr gefallen,«