Als Doktor Braun wieder ins Feld hinaus mußte, hielt sein Nesthäkchen tapfer die fürwitzigen Tränen, die sich durchaus hervordrängen wollten, zurück. Sie dachte an Vera – nein, nicht weinen! Sie hatte nur Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein.
17. Kapitel
Das Kriegskind
Annemarie hielt Wort. Sie dachte stets daran, ihr Unrecht an Vera gut zu machen. In zarter Weise war sie bemüht, die Trauernde zu trösten und die Wunde, die das Schicksal dem armen Kind geschlagen, durch liebevolle Freundschaftsbeweise zu heilen.
Wie hätte auch ein deutsches Mädchen nicht Wort gehalten! Das taten doch nur die Italiener, daß sie Freunden ihr Wort brachen. Im Hause Doktor Brauns wurde nicht schlecht über die treulosen Bundesgenossen, die den einstigen Verbündeten heimtückisch in den Rücken fielen, hergezogen. Hans hielt lange Reden, deren Schluß stets war, daß auch er nun unbedingt zu den Fahnen müsse, da noch ein neuer Kriegsschauplatz gegen Süden eröffnet wurde! Klaus wünschte Italien mit unternehmungslustigem Armrecken »die schönste Kloppe«. Nesthäkchen aber dachte: »Wenn ich jemals wieder schlecht zu Vera bin, wäre ich noch schlimmer als die Italiener.«
Aus Frühling ward Sommer. Großmama hatte in dieser ernsten Zeit keine Lust, in einen Badeort zu reisen. Und doch war Berliner Schulkindern ein Hinauskommen in Gottes freie Natur notwendig. So wurde diesmal das Gut Arnsdorf zum Ferienaufenthalt gewählt. Es zog die Großmama zu ihrer zweiten Tochter Kätchen, da sie die ältere noch immer entbehren mußte. Und die drei Kinder konnten sich obendrein bei der Erntearbeit nützlich machen.
Das taten sie denn auch freudig unter Einsetzung all ihrer Kräfte. Mit Kusine Elli und den beiden Vettern um die Wette banden sie Garben, und luden sie das Getreide auf. Denn die Leute waren knapp auf den Gütern geworden; was handfeste Arme hatte, war im Krieg.
»Ihr müßt nächstes Jahr doppelte Brotkarten für euren Fleiß bekommen, Kinder«, scherzte Onkel Heinrich, der zur völligen Herstellung seiner Wunde noch einige Wochen Urlaub erhalten hatte. »Besonders das Kleine, das heute einen großen Strauß Mohn und Kornblumen für die Großmama gepflückt hat, anstatt für Brotgetreide zu sorgen. Ist das Vaterlandsliebe, he?«
»Das Kleine« wurde röter als der Mohn, trotzdem Onkel Heinrich nur Scherz machte.
»Annemarie hat sehr fleißig bei der Obsternte geholfen«, nahm sich Tante Kätchen ihres Nichtchens an.
»Ja, beim Futtern!« fiel einer der Vettern ungalant ein.
Nesthäkchen aber sah Tante Kätchen dankbar an. Es hatte die Tante diesmal ganz besonders lieb, weil – sie der Mutti so ähnlich war.
Klaus, der in Arnsdorf als Strolch von früheren Ferienaufenthalten her rühmlichst bekannt war, benahm sich diesmal merkwürdig zahm. Auch an dem wilden Strick war der Ernst der Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Der einzige Streich, den er sich leistete, war, daß er Tante Kätchens halbe Wirtschaft heimlich in einen alten ausgetrockneten Wassergraben schleppte, aus dem er sich einen wundervollen Schützengraben baute. Denn seitdem Onkel Heinrich den Kindern von dem Höhlenleben unter der Erde erzählt hatte, richteten sich alle Wünsche von Klaus darauf, ebenfalls solch ein Höhlenbewohner zu werden.
Mitten hinein in die emsige Erntearbeit jubelten die Siegesglocken Warschaus Fall. Die Hauptstadt Polens war in deutscher Hand, der Feind auf der ganzen Linie geschlagen und zurückgedrängt.
Doch immer weiter brüllten unersättlich die Geschütze, heulten die grausamen Granaten durch die herbstlich werdende Luft. Ob Ost, ob West, ob Süd, ob über, auf oder unter der Erde, mit unverminderter Heftigkeit tobte der Weltkrieg. Die siegreiche Heeresgruppe des General Mackensen marschierte über die Donau nach Serbien hinein, die Verbindung zwischen Abend-und Morgenland war geschaffen. Bulgariens tapfere Söhne schlossen sich als Verbündete den Zentralmächten an. Der zweite Kriegswinter begann.
Das Schubertsche Mädchengymnasium siedelte zu Oktober wieder in die gewohnten Räume über. Man bedurfte der Schule nicht mehr zu Lazarettzwecken, da genug Privatheilanstalten sich dafür zur Verfügung gestellt hatten.
Mit neuem Fleiß wurde in den alten Räumen geschafft. Unermüdlich regten sich emsige Mädchenfinger, die Kämpfenden, die schon das zweitemal das Weihnachtsfest fern von der Heimat begehen sollten, durch nützliche Gaben zu erfreuen.
Es war ein häßlicher, regengrauer Novembertag. Margot, Vera und Annemarie, die drei »Unzertrennlichen«, wie sie jetzt in der Klasse hießen, drängten sich beim Heimweg von der Schule unter einen Schirm, trotzdem jede den ihren bei sich hatte. Aber so war es viel gemütlicher, wenn man auch etwas naß wurde.
»Drei Würmchen unter einem Schirmchen«, lachte Annemarie und machte einen gewaltigen Satz über eine Pfütze hinweg. Natürlich mußten die andern beiden mithopsen.
»Weißt du noch, Annemie, wie du nicht mit mir unter einem Schirm gehen wolltest?« fragte Vera halb ernst, halb scherzhaft. Bis auf das rollende Rrr hörte man ihrer Sprache nichts Fremdes mehr an.
Annemarie legte der Freundin mit bittendem Blick die regenfeuchte Hand auf den Mund. Sie mochte nicht an jene häßliche Zeit erinnert werden.
»Aufgepaßt!« eine Straßenfegerin hätte das Kleeblatt unter dem Regenschirm bei einem Haar mit ihrer Schaufel fortgekehrt.
Das verursachte wieder Lachen und Hopsen.
»Heiliger Bimbam, jetzt gibt es schon Straßenfegerinnen, und eine Postillionin habe ich neulich auch schon gesehen«, rief Annemarie belustigt.
»Na, in den Warenhäusern sind doch jetzt auch überall Fahrstuhlführerinnen«, fiel Margot ein.
»Und auf der Stadt-und Untergrundbahn sieht man nur Schaffnerinnen« – – –
»Wenn der Krieg noch lange dauert, steht bald an den Straßenecken eine Schutzfrau anstatt eines Schutzmannes«, unterbrach Annemarie die Freundinnen übermütig.
»Eigentlich ist es gar nicht zum Lachen, sondern sehr ernst«, Margot war die Überlegteste von den dreien. »Zu uns kommt jetzt immer solche nette Briefträgerin. Die hat kleine unversorgte Kinder daheim und muß doch den ganzen Tag fort von Haus, um in dieser schweren Zeit durchzukommen.«
»Ja, es ist eine schwere Zeit«, nickte auch Annemarie mit drollig wirkendem Ernst. Sie dachte dabei an die Marmeladenbrote, die es jetzt statt der einstigen Buttersemmeln nur noch zum Frühstück gab. »Aber die Briefträgerin mag ich nicht, die hat uns noch keinen einzigen Brief von Mutti gebracht. So lange warten wir jetzt schon wieder auf Nachricht.«
»Die Briefträgerin kann sicher nichts dafür, Annemie«, verteidigte sie Margot.
»Am Ende sind die Fliegerbomben, die jetzt öfters auf London herabgerasselt sind, schuld, daß keine deutschen Briefe herausgehen dürfen, meint mein Bruder Hans. Ach, ich wollte, ich wäre ein armes Briefträgerinkind, das hat doch seine Mutter wenigstens des Morgens und des Abends.«
»Was soll ich erst sagen, Annemie!« ganz leise kam es von Veras Lippen.
Annemarie drückte zärtlich ihren Arm. »Du hast recht, Vera, ich bin ein ganz undankbarer Schlingel!«
Mittags aber, als Annemarie bei der dampfenden Suppe saß und sich unten im Hof ein dünnes Kinderstimmchen hören ließ, das zur Laute der Mutter um ein paar Pfennige sang, dachte sie wieder, während sie der Kleinen ein Geldstück hinunterwarf: »Wie gern wäre ich das arme Kind und sänge bei diesem Hundewetter aus den Höfen, hätte ich nur meine liebe Mutti bei mir!«
Großmamas weichem Herzen tat die kleine Sängerin leid. »Rufe das Kind herauf, Annemie, es ist noch ein Teller Suppe übrig. Das arme Dingelchen hat gewiß heute noch nichts Warmes bekommen.«
Annemarie entledigte sich strahlend ihres Auftrags. Ein gutes Kind hilft ja so gern.