Gleich darauf hatte Annemarie aber diesen Gedanken als ganz unmöglich von der Hand gewiesen. Nein, was würden wohl ihre Freundinnen für Gesichter dazu machen. Und um ihr Vergnügtsein war es auch geschehen, wenn Vera dabei war. Sie würden sich sicherlich durch ihre Anwesenheit alle bedrückt fühlen. So ließ Annemarie den günstigen Augenblick ungenützt verstreichen.
Der 9. April brachte dem Geburtstagskind als schönstes Geschenk ein an Fräulein Annemarie Braun gerichtetes Schreiben aus England. Mutti war wieder frei! Die Engländer hatten, da nicht das geringste Belastungsmaterial, außer dieser einen unvorsichtigen Äußerung, vorlag, die Gefangene aus der Haft entlassen. Allerdings mußte sie sich regelmäßig jede Woche auf der Polizei melden, und – nun kam das weniger Schöne – sie durfte England in absehbarer Zeit nicht verlassen. Aber Annemarie und alle übrigen Familienmitglieder waren trotzdem wie aufgebunden. Mochte die Mutter ruhig noch in England bleiben – ewig konnte der Krieg ja nicht währen – wenn nur ihr Leben gesichert war! Wenn sie nur nicht mehr in der Gefangenschaft schmachtete!
Jetzt erst hatte das Geburtstagskind richtige Freude an den Geschenken, mit denen jeder einzelne im Hause das allgemein beliebte Nesthäkchen bedacht hatte.
Zwar hatte Annemarie nur um Geld gebeten, um dafür Liebesgaben ins Feld senden zu können, aber Großmama hatte dem Enkelchen selbst Liebesgaben aufgebaut. Wenn auch im bescheidenen Maße, wie es der Zeit entsprach.
Nur daß die Glückwunschkarte vom Vater ausgeblieben war, schmerzte Annemarie. Er hatte jetzt als Arzt Schützengrabendienst, da mochte sich sein Schreiben wohl verspätet haben.
Aber von Gerda Eberhard, ihrer Breslauer Freundin aus dem Kinderheim, kam ein lieber Brief. Wie nett von der Gerda, daß sie an ihren Geburtstag gedacht hatte. Ihr Vater, der Hauptmann war, lag verwundet im Lazarett. Da wollte Annemarie ganz froh sein, wenn von ihrem Vater der Geburtstagsbrief auch unpünktlich ankam. Die Hauptsache, daß Vater gesund war.
Tante Albertinchen erschien heute zu Tisch. Ihre fleißigen Finger hatten für das Lieblingsnichtchen eine wunderhübsche Bluse gestickt. Auch ein Herr, einen Blumenstrauß in der Hand, stellte sich vormittags zur Besuchszeit ein – in Windelhöschen und im ersten, von den Junghelferinnen selbst fabrizierten kurzen Kleidchen. Annemaries Junge benahm sich heute, dem Geburtstag seiner kleinen Pflegemutter zu Ehren, höchst manierlich. Er schrie nicht, lachte sie an und erzählte lange Mordsgeschichten, die kein Mensch verstehen konnte. »Rackerlatein« nannte Großmama seine Sprache. Nur von dem Blumensträußchen wollte sich das jetzt dreiviertel Jahre alte Mäxchen durchaus nicht trennen.
Die Nachmittagsschokolade verlief höchst vergnügt. Der Riesenkriegskuchen, den Hanne gebacken, fand dankbare Abnehmer. Das war ein Lachen und Schwatzen, Kichern und Tuscheln, daß selbst die alten Damen dabei wieder jung wurden und an den fröhlichen Gesellschaftsspielen teilnahmen. Auch Klaus ärgerte die Mädels heute ausnahmsweise nicht; er verzichtete selbst auf das Vergnügen, Puck auf die furchtsame Margot zu Hetzen. Die Anwesenheit des netten, bescheidenen Kurts wirkte höchst wohltuend auf den wilden Jungen.
Beim Pfänderauslösen wurden für jedes Pfand schwere Strafen erdacht, wie »Steine karren«, einen Ring mit dem Munde aus einem Berg Mehl herausgraben und andere lustige Dinge mehr. Als wieder ein Pfand hochgehalten wurde, mit der Frage: »Was soll der tun, dessen Pfand ich hab’ in meiner Hand?« rief plötzlich Marianne lachend: »Mit der ›Polnischen‹ in der nächsten Zwischenpause gehen!« Es war Annemaries rote Haarschleife, welche diese, nicht weniger rot, in Empfang nahm.
»Nein – nein – sag’ was anderes, das ist doch gar nichts Richtiges«, wehrte sie sich energisch. Aber alles Sträuben half dem Geburtstagskind nichts. Ausgelassen blieb die Freundin bei ihrem Richterspruch.
»Bis zum ersten Schultag ist ja noch lange hin«, tröstete sich Annemarie und ließ sich ihre Geburtstagslaune dadurch nicht verderben. Aber es war doch gut, daß sie Vera nicht eingeladen hatte.
Leider mußten die Freundinnen schon um sieben Uhr aufbrechen. In der Kriegszeit fanden die Kinderbesuche ohne Abendbrot statt, da jede Familie nur gerade für sich genügend Brot hatte. Und bei Brauns war es diese Woche besonders knapp. Denn Klaus hatte, als er ein Brot holen sollte, es für notwendiger erachtet, auf der Straße an einem Jungenkriegsspiel, Deutsche gegen Engländer, teilzunehmen. Nur seiner Feindschaft gegen England war es zuzuschreiben, daß die beiden Brotkarten sich nachher nirgends finden lassen wollten. Und daß er mit blauen Flecken, aber ohne Brot, heimkehren mußte. Zur Strafe sollte er die Woche über abends keine Stullen erhalten. Doch Großmama und Fräulein drückten ein Auge zu, wenn Hans oder Annemarie dem ewig Hungrigen von ihren Schnitten heimlich zuschoben. Denn unglücklicherweise herrschte in dieser Woche auch gerade große Kartoffelknappheit in Berlin.
Mit vielen Dankworten und Küssen verabschiedeten sich die Freundinnen. Klaus begleitete Kurt nach Hause.
Da klingelte es.
Hatte eins der Mädel am Ende etwas vergessen? Annemarie stürzte zur Tür.
Nein, es war keine der Freundinnen. In dem schon dämmrigen Treppenflur stand ein fremder, bärtiger Offizier. Gewiß ein Patient, der sich verspätet hatte.
Annemarie knickste höflich. »Mein Vater ist im Felde, aber wenn Sie zu seinem Vertreter gehen wollen – – –«
Wildes Freudengeheul von Puck unterbrach Nesthäkchens wohlgesetzte Rede. Und jetzt ein Lachen, das ihr alles Blut zum Herzen trieb. Sie sah schärfer hin … und »Vater – Vatichen – mein liebes Vatchen!« Da hing die Annemarie an dem Halse des »Patienten« und streichelte und küßte unter Freudentränen sein durch den Bart verändertes, braungebranntes Gesicht.
»Ist meine Lotte wirklich dümmer als der Puck, kennt ihren eigenen Vater nicht mehr!« Doktor Braun ließ sein Töchterchen nicht aus dem Arm. Auch während die andern alle sich freudig um ihn drängten, gab er seine Lotte nicht frei. Es war ja sein Kleinstes, sein Nesthäkchen – wenn es ihm auch jetzt schon bis zur Schulter reichte, wenn es auch heute bereits zwölf Jahre alt wurde.
Und Annemarie selbst, das große Mädel, saß auf Vaters Knie, wie es früher das kleine Nesthäkchen getan. Sie erdrückte ihn fast mit ihren stürmischen Liebkosungen. All die Sehnsucht, die Annemarie während der langen Kriegsmonate nach den fernen Eltern empfunden, löste sich in unaussprechlicher Zärtlichkeit gegen den auf Urlaub heimgekehrten Vater.
Wohl fehlte eine, aber der heutige Brief der Mutter ließ die Lücke weniger schmerzlich empfinden, goß dankbares Sich-ins-Unabänderliche-Fügen in die Seelen der ihrigen.
Was wurde das noch für ein schöner Geburtstag! Nesthäkchen war nicht ins Bett zu bringen. Fast bis Mitternacht saß sie auf Vaters Knie, während Klaus und Hans dem von dem gewaltigen Ringen in der Champagne Berichtenden die Worte förmlich von den Lippen lasen.
»So wenig wie es ihnen trotz der gewaltigen Vorbereitungen gelungen ist, diesmal unsere Reihen zu durchbrechen, wird es ihnen auch fernerhin glücken. Wir halten durch, draußen wie drinnen!« schloß der Vater mit erhebendem Ernst.
»Ach, Vater, wenn ich doch helfen dürfte, laß mich doch mit hinaus! Zwei Jungen aus meiner Klasse sind schon seit Oktober dabei. Und aus der Oberprima ist sogar schon einer gefallen!« Hans hatte heiße Backen und blitzende Augen.
»Nein, mein Sohn, nicht mal das letztere kann mich umstimmen. Du bist mir noch nicht kräftig genug. Soll mein Junge etwa vor dem Feinde schlapp werden? Das wäre doch eine Schande, was? Frag’ in einem Jahr wieder nach – Gott gebe, daß wir dann längst siegreichen Frieden haben – und bis dahin tu’ deine Pflicht daheim, wie du sie bisher geleistet.«
Schweren Herzens mußte sich Hans fügen – Großmama atmete auf.
»Schläft meine Lotte?« Vater hob den blonden Kopf seiner Jüngsten zu sich empor. Nein, mit großen Augen lauschte sie und genoß ganz still dabei das Glück,