»Nee – Mutti – meine Mutti – – –« mehr brachte die arme Kleine nicht heraus.
Wieder mußte Großmama sich die Worte von den Lippen ringen.
Klaus schrie und weinte nicht, wie es Annemarie getan. Er ballte die Hände zu Fäusten, als wolle er gegen einen unsichtbaren Feind los, und »Gott strafe England!«, das war das einzige, was er vorläufig in ohnmächtiger Empörung wild herausstieß.
Dann saßen die beiden Geschwister, die noch vor kurzem so ausgelassen gewesen, ganz zerschmettert und studierten gemeinsam den Brief der Mutter.
Nur wenige Zeilen waren es:
»Meine Geliebten alle daheim! Ich muß Euch heute Schmerz zufügen, und das tut mir noch weher, als es Euch tun wird. Ich befinde mich nicht mehr bei den Verwandten. Meiner Begeisterung über die Erfolge unserer Unterseeboote habe ich unvorsichtigerweise gegen Kusine Annchen allzu laut Ausdruck gegeben. Diese Äußerung ist von anderen gehört und wohl entstellt zur Anzeige gebracht worden. Die Folge davon war meine Festnahme als mutmaßliche Spionin. Es geht mir hier verhältnismäßig nicht schlecht. Ich hoffe zu Gott, daß meine Unschuld sich in allernächster Zeit herausstellen muß und ich wieder frei gelassen werde.«
»Wenn sie die Mutti man bloß nicht als Spionin erschießen«, unterbrach hier Klaus, Entsetzen in den sonst so übermütigen braunen Augen, das gemeinsame Lesen.
»Klaus – – –«, gellend schrie es Nesthäkchen. Dann verhüllte eine mitleidige Ohnmacht dem armen Kind die furchtbaren Gedanken.
Als Annemarie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Zur Seite desselben saß die liebe Großmama mit sorgenvollem Gesicht. Fräulein ging ab und zu und legte kalte Umschläge auf die Stirn des kleinen Mädchens.
»Großmama, ich habe so furchtbar geträumt, oder – – – ist es wahr, Großmama … sag’ doch, bitte, bitte, sag’ doch, daß es nicht wahr ist – – –« angstvoll klammerte sich Annemarie an Großmamas Hand.
»Es ist leider die Wahrheit, mein Liebling. Aber was Klaus gesagt hat, das ist dummes Zeug. Auf einen bloßen Verdacht hin wird keiner abgeurteilt. Onkel John wird schon dafür sorgen, daß sie Mutti bald wieder freilassen.«
»Ja, meinst du wirklich, Großmuttchen?« wie erlöst schloß Nesthäkchen wieder die Augen. Tiefe Abspannung folgte aus die furchtbare Aufregung.
Ganz so zuversichtlich, wie Großmamas Worte zur Beruhigung des Kindes geklungen, empfand die alte Dame in ihrem Herzen nicht. Das englische Volk war erbittert über erhebliche Schiffsverluste durch die Unterseeboote, über den nächtlichen, bombengefährlichen Besuch der Flieger und Zeppeline. In den großen Städten war es zu Ausschreitungen der Bevölkerung gegen deutsche Firmen und Familien gekommen. Konnte Feindseligkeit und Gehässigkeit nicht auch harmlose Äußerungen ihrer Tochter so entstellen, daß eine genügende Belastung vorlag …
»Lieber Gott, da oben, erbarme du dich!« aus angstvollem Mutterherzen stieg in tiefer Seelennot ein heißes Flehen zu dem empor, der die Geschicke der Völker und Menschen lenkt.
16. Kapitel
Nesthäkchen macht ihr Unrecht gut
Goldener Frühling war in das Land gezogen. Neue Hoffnungsfreude goß er in die Herzen der Menschen und ganz besonders in die der Jugend. Alles erneute sich draußen in der Natur, sproßte und blühte – wo blieben da schwere oder gar traurige Gedanken? Die blies der Lenzwind übermütig davon.
Auch Klaus und Annemarie fühlten die Macht des Frühlings. Nachdem sie einige Tage gedrückt und still einhergegangen, erwachte allmählich wieder Jugendfrohsinn und Jugendhoffnung. Noch war ja nichts verloren, vielleicht war die Mutter überhaupt schon wieder auf freien Fuß gesetzt, die Briefe blieben ja so lange unterwegs. Wozu den Kopf hängen lassen, wenn noch gar kein Grund dazu war!
Die beängstigende Stille, die mehrere Tage im Braunschen Hause geherrscht, machte allmählich gewohnter Lebhaftigkeit Platz. Klaus schmetterte wieder durch die Wohnung, und Nesthäkchen begann wieder zu singen und zu springen. Nur manchmal blickten die Kinderaugen so nachdenklich drein, daß die liebe Frühlingssonne Mühe hatte, den ungewohnten Ernst darin fortzulachen.
Hans, seit Oktober Unterprimaner, hatte am meisten durch die böse Nachricht gelitten. Ganz still, ganz für sich. Keiner merkte es, wie tief es dem Jungen gegangen. Er nahm sich mit aller Kraft zusammen, um als Ältester der Großmutter in den schweren Tagen eine seelische Stütze zu sein. Nur einmal kam es zum Ausbruch: »Wenn doch Vater erlauben würde, daß ich mich stelle, zwei aus meiner Klasse sind schon im Felde. Wenn ich doch gegen die Engländer ziehen könnte! Jede Träne, die Mutti vergießt, sollten sie mit ihrem Blut bezahlen!« Großmama sah ganz erschrocken auf den Erregten. Was hatte der Krieg aus dem sanften Jungen gemacht!
Zu Ostern war Nesthäkchen als Zweite in die fünfte Klasse versetzt worden. Die Erste war diesmal Ilse Hermann geworden. Annemaries Zensur war vorzüglich ausgefallen, aber sie hatte keine rechte Freude daran. Trotz des Theaterbilletts zu »Wilhelm Teil«, das Großmama ihr und Klaus, der sich auch in diesem ernsten Winterhalbjahr mehr Mühe gegeben, schenkte. Ja, wenn Vatchen und Mutti sich hätten über ihre fleißige »Lotte« freuen können, aber so …
Nesthäkchen hatte es in diesen Kriegsmonaten bereits gelernt, daß es für jeden galt, Opfer zu bringen. Doch es wollte dem glückverwöhnten kleinen Mädel scheinen, als ob kein anderer so große Opfer zu leisten habe, als es selbst. Von den Mitschülerinnen war doch nur der Vater draußen im Felde, die Mutter hatten sie doch fast alle daheim. Sie aber mußte Vater und Mutter entbehren, und noch um das Leben der letzteren zittern. Denn die Worte von Klaus hatte Annemarie durchaus nicht vergessen. Wie einen Stich fühlte sie dieselben oft durch ihr Herz zucken, manchmal mitten in der Schulstunde.
Meist war dies der Fall, wenn ihr Blick die schwarzlockige Vera streifte. All das Weh, das sie dem armen Mädchen durch ihren unbegründeten Verdacht zugefügt hatte, empfand Doktors Nesthäkchen jetzt selbst, wenn sie an ihre gefangene Mutter dachte. Hatte sie Vera nicht ein gleiches Unrecht getan, wie die Engländer ihrer Mutti? Pfui – und sie war ein deutsches Mädchen, war stolz darauf, es zu sein.
»Mach’ gut, es ist nie zu spät zum Gutmachen!« flüsterte in Annemarie die Stimme, die oft unbequem ist, aber immer den richtigen Weg weist. Dann hatte Annemarie wohl auch den besten Willen dazu, aber – es war so schwer! Die Kleine schreckte davor zurück, vor den Schulkameradinnen einzugestehen, daß sie unrecht gehandelt hatte.
Und doch war Vera diejenige in der Klasse, bei der selbst Annemarie anerkennen mußte, daß diese es noch schlechter habe als sie selbst. Zu ihr waren doch alle lieb und freundlich. Vera aber war gemieden und ausgestoßen. Keine Mutter, keine Heimat – nein wirklich, im Vergleich mit Vera konnte sie noch ganz zufrieden sein.
Auch daß die »Polnische« sich nicht die Spur rachsüchtig benommen, mußte Annemarie zugeben. Kein Wort war von ihr über Annemarie Brauns Jungenanzug in der Schule verlautet. Nur dagestanden hatte die Vera am nächsten Tage, nachdem Annemarie im Hause ihrer Tante die Wollsachen abgeholt, und hatte sie mit ihren großen Augen halb fragend, halb bittend angesehen. Als wollte sie sagen: »Was habe ich dir nur getan, daß du mich nicht magst?«
Aber Annemarie, die ihre Freundin Margot umschlungen hatte, war zu sehr mit sich selbst und ihrem eigenen Kummer um die Mutter beschäftigt. Die hatte keinen Blick für die bekümmerte Vera.
Je mehr Tage vergingen, um so unmöglicher erschien es Annemarie, ihr Benehmen gegen Vera plötzlich zu ändern. Was hätte diese selbst wohl davon gedacht! Ordentlich froh war sie, als die Osterferien begannen: nun wurde sie durch den Anblick des schwarzhaarigen Mädels doch nicht täglich an ihre Schlechtigkeit erinnert.
Nesthäkchens zwölfter Geburtstag fiel in die Ferien. Die gute Großmama hatte, trotzdem ihr gar nicht nach fröhlichen Feiern zumute war, erlaubt, daß Annemarie sich ihre vier besten Schulfreundinnen