Am nächsten Tage ging in der sechsten Klasse wiederum ein Zettel während der Geschichtsstunde heimlich unter dem Tisch herum, darauf stand: »Vorsicht bei Gesprächen! Spionengefahr!«
Jede in der Klasse wußte, wer damit gemeint war.
11. Kapitel
Weihnachtsabend im Lazarett
Von diesem Tage an war Vera noch viel mehr gemieden als zuvor. Selbst die, welche ihr schon freundlichere Empfindungen entgegengebracht hatten, Ilse und Marlene, stießen jetzt mit in dasselbe Horn. Eine Spionin – pfui!
Es ging so weit, daß die Kinder keine laute Unterhaltung mehr wagten, wenn Vera in der Nähe stand. Denn meist sprachen sie doch jetzt vom Kriege und von den Briefen, die ihre Angehörigen aus dem Felde heimsandten. Sie flüsterten sich ihre Mitteilungen zu und warfen dabei scheue Blicke auf die »Polnische«. Hatte die auch bloß nicht gehorcht?
Die Lehrer und Lehrerinnen waren freundlich und lieb zu der kleinen heimatlosen Fremden, die sich jetzt viel Mühe während des Unterrichts gab. Anstatt sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen, überlegten die Kinder, ob sie es den Lehrern nicht mitteilen müßten, daß Vera eine russische Spionin sei. Aber keine wagte es, nicht mal die kecke Annemarie Braun.
Die hatte längst keine Gewissensbisse mehr wegen Vera. Im Gegenteil, wo sie nur konnte, zeigte sie »der Spionin« ihre Verachtung. Als sie am ersten Dezember von einer zur andern schritt, um den Monatsbeitrag für den Junghelferinnenbund einzuziehen, streckte ihr auch Vera ihre fünfundzwanzig Pfennige entgegen. Annemarie ging vorüber, als ob sie Veras Hand nicht sähe.
Da trat das schwarzlockige Mädchen in der nächsten Zwischenstunde zu Annemaries Platz.
»Ich noch nicht haben gezahlt«, sagte sie leise, das Geld Annemarie in die Hand gebend.
Die ließ es fallen, als habe sie glühendes Eisen berührt.
»Von dir nehme ich nichts, du gehörst nicht zu unserem Junghelferinnenbund – nur deutsche Mädchen dürfen Mitglied sein!« rief sie und sah sich stolz in der Klasse um.
Die andern lachten und nickten ihr Beifall zu. Das war recht, daß die Annemarie Braun es der Spionin mal ordentlich gezeigt hatte, wie man über sie dachte.
Vera waren die Tränen in die Augen geschossen – still wandte sie sich ab.
War sie denn kein deutsches Mädchen? Bloß weil sie deutsch war, hatte sie doch vor den russischen Kosaken aus der Heimat flüchten müssen. Ihr Vater kämpfte doch freiwillig für Deutschland, wie die Väter der andern Kinder. Allerdings, sie sprach fast nur Polnisch, als sie in die Schule kam; aber sie hatte doch von den Dienstboten in Czernowitz nichts anderes gehört.
Soviel die arme Vera auch überlegte und grübelte, sie verstand nicht, warum sie als einzige nicht zum Junghelferinnenbund gehören sollte. Nur die grenzenlose Verachtung, welche Annemaries Worte offenbart hatten, begriff sie, und die machten das Herz des armen Kindes niedergedrückt und traurig.
Dabei war es doch der Monat, in dem Kinderherzen ganz besonders freudig zu schlagen pflegen. Aber er zeigte diesmal im Kriegsjahr ein ernsteres Gesicht als sonst, der schöne Weihnachtsmonat. Da war wohl keine Familie, die nicht ein liebes Mitglied im Kampfe draußen hatte, war es nun zu Land, zu Wasser, oder hoch oben in den Lüften. Und wievielen hatte schon der Krieg für immer grausam das Liebste geraubt. Manche schwarzverschleierte Frauengestalt sah man in den Straßen.
Da war es kein Wunder, wenn auch die Freude der Kleinen in diesem Jahre gedämpfter war. Aber sie war vielleicht tiefer als in jedem anderen. Weder Annemarie noch ihre Freundinnen schrieben diesmal Weihnachtswünsche – alle hatten sie auf ihre Weihnachtsgaben Verzicht geleistet und gebeten, für das Geld lieber Pakete ins Feld schicken oder den armen Verwundeten eine Weihnachtsfreude machen zu dürfen.
Das Schubertsche Mädchenlyzeum hatte Berge von Soldatenpaketen an die Front geliefert. Die fleißigen Mädchenhände hatten sich alle die Monate für die Vaterlandsverteidiger gemüht. Dicke Teppiche aus Zeitungspapier im Friesüberzug waren für die in der Feuchtigkeit der Schützengräben Liegenden angefertigt. Warme »Stieglitzdecken«, aus lauter bunten Wollresten gestrickt, hatte eine jede gearbeitet. Strümpfe, Schals, Kopf-und Lungenschützer, Pulswärmer, Handschuhe und Leibbinden – unendlich viele an der Zahl. So hatte jede Schule in jeder deutschen Stadt ihr Teil zugesteuert – überall hatten deutsche Frauen und Mädchen für ihre Soldaten getreulich geschafft.
Es tat aber auch not. Sowohl in Polens eisigen Ebenen als auch in den verschneiten Argonnenwäldern. In der Gletscherwelt der Karpathen, wie an der sturmgepeitschten flandrischen Küste, und nun erst gar draußen auf offenem Meer.
Doktors Nesthäkchen hatte ihre Weihnachtspakete vorwiegend an die Marine gesandt. Annemarie wußte von ihrem Nordseeaufenthalt her, was es hieß, solche Wintersturmnacht auf hoher See. An jedes Paket waren mit schwarz-weiß-rotem Bändchen Schokolade, Tabak und Zigarren gebunden. Die Strümpfe wurden mit Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen gefüllt. Die Hauptsache aber für die Kinder war die Wohlfahrtskarte, die sie, mit ihrer Adresse versehen, beifügten. Damit man doch wußte, wer denn eigentlich die Strümpfe oder den Kopfschützer trug, mit dem man sich wochenlang gemüht hatte. Die Dankkarten der erfreuten Soldaten waren dann später reicher Lohn.
An Vater war ein riesengroßes Paket abgegangen. Eigentlich hoffte man im Braunschen Hause, daß der Vater zu Weihnachten Urlaub erhalten würde. Annemarie aber hatte noch eine ganz andere Hoffnung. Sie redete sich bestimmt ein, daß Mutti zu Weihnachten endlich wiederkommen würde. Es war ja gar nicht denkbar, daß sie am Heiligabend von ihren Kindern fort blieb. Voriges Jahr hatte das kleine Mädchen zwar auch ohne die Eltern Weihnachten feiern müssen, aber da war sie selbst fern im Kinderheim gewesen. Dort hatte sie es weniger empfunden. Aber dieses Jahr zu Hause – nein, nein, Mutti mußte ja kommen!
Großmama war bescheidener in ihren Wünschen; die wäre schon froh gewesen, wenn nur endlich mal irgendeine Nachricht eingetroffen wäre. Inzwischen suchte sie in rührendster Weise in Gemeinschaft mit Fräulein den Kindern einen schönen Weihnachtsabend zu bereiten. Sie hatten zwar alle drei auf ihre Geschenke verzichtet. Aber gibt es eine Großmutter, die es übers Herz bringt, die Enkelkinder am Heiligabend leer ausgehen zu lassen?
Der Weihnachtsabend des großen Kriegsjahres senkte sich leis über die wild gegeneinander wütende Welt. Tobte selbst heute der blutige Kampf? Nein, still war’s fast überall an der Front. Statt aufblitzender Granaten flimmerten durch den Schneewald helle Lichterbäumchen – statt des Geknatters der Maschinengewehre zogen fromme Lieder aus rauhen Männerkehlen durch die Winternacht. Deutsche Soldaten feierten im Schützengraben Weihnacht.
Mit wehmütigen Augen stand im Feldlazarett Doktor Braun vor der großen Heimatkiste. Mit wieviel Liebe war sie gepackt, wie war ein jedes darauf bedacht gewesen, ihn zu erfreuen. Sein Nesthäkchen – was hatte es nicht alles für ihn gearbeitet! Sogar einen Muff hatte es für ihn gestrickt. Doktor Braun lächelte. Seine Lotte schien sich so ein Feldlazarett mitten im Schützengraben vorzustellen, dabei war es wohlig warm in den geheizten Räumen. Aber seinen wieder hinausziehenden Verwundeten würden die Sachen zustatten kommen.
Wie gern hätte der Vater auf all die Liebesgaben verzichtet, wenn er sein Nesthäkchen stattdessen wie früher auf sein Knie hätte ziehen können. Sein Blick fiel auf das schwarz-weiße Bändchen. das seit heute sein Knopfloch schmückte. Als Weihnachtsgabe hatte man ihm das Eiserne Kreuz für seine unermüdliche Tätigkeit Tag und Nacht überreicht. Aber wo blieb die Freude, die er dabei hätte empfinden müssen? Ja, wenn die, mit der er bisher alles getreulich geteilt, wenn seine Frau an seiner Freude hätte teilnehmen können. Doch er wußte nicht mal, ob die Mitteilung davon sie erreichen würde – ob sie überhaupt schon irgendeine Nachricht von ihm erhalten hatte. Es war geradezu schleierhaft, warum weder sie, noch einer der Verwandten schrieb.
Der