Das war aber noch nicht alles. In der nächsten Stunde ging heimlich unter dem Tisch ein Zettel von Hand zu Hand. Nur zu der kleinen Fremden kam er nicht. Darauf stand: »Wer mit Vera Burkhard in den Pausen geht oder überhaupt mit ihr spricht, verrät sein Vaterland!«
Das wollte keine. Jedes der Kinder wollte so patriotisch wie nur irgend möglich sein. Trotzdem sich die meisten zu der hübschen, fremdartigen Vera hingezogen fühlten – denn alles Neue zieht Kinder an – nahmen sie sich fest vor, sie links liegen zu lassen. Kam doch der Zettel von Annemarie Braun, die stets tonangebend in der Klasse war. Und außerdem war sie Vertrauensschülerin und Kassiererin des Junghelferinnenbundes – nein, Annemaries Zettel mußte Folge geleistet werden, wenn man nicht vor der ganzen Klasse als Vaterlandsverräterin gelten wollte.
So wagten auch die, welche Mitleid mit dem verlassenen, kleinen Mädchen hatten, es nicht, freundlich gegen dasselbe zu sein. Vera war plötzlich ausgestoßen aus der Klassengemeinschaft.
Die, welche das alles verursacht hatte, Doktors Nesthäkchen, ahnte gar nicht, was für ein Unrecht es damit getan. Im Gegenteil – Annemarie war noch äußerst stolz darauf, ihre Klasse vor einem Vaterlandsverrat errettet zu haben.
In der nächsten großen Pause, nachdem jener verhängnisvolle Zettel die Runde gemacht hatte, stellte sich Vera mit freundschaftlicher Selbstverständlichkeit wieder bei Margot und Annemarie ein. Ihnen aus ihren schönen, tiefblauen Augen zulächelnd, wollte sie, wie in der vorigen Pause, ihren Arm in den der neuen Freundinnen schieben.
Margot ließ es in ihrer bescheidenen Art mit puterrotem Gesicht über sich ergehen, sie wagte keine Abweisung. Die temperamentvolle Annemarie aber riß sich mit blitzenden Augen los und rief so laut, daß es die ganze Klasse hören konnte: »Mit dir gehen wir nicht, du alte Feindin!«
Damit zog sie auch Margot schnell fort.
Diejenige, an welche die häßlichen Worte sich richteten, war die einzige, die sie nicht verstanden hatte! Aber daß das blonde, kleine Mädchen nichts Freundliches gesagt, das hatte Vera aus dem Ton der Stimme herausgehört. Auch die Art, wie sich Annemarie von ihr losgemacht, war so verletzend gewesen, daß jeder die Abweisung verstehen konnte, auch wenn er nicht Deutsch sprach. Dazu kamen die spöttischen Mienen der andern Kinder, denen Annemarie es deutlich gezeigt hatte, wie man sich seiner »Feinde« erwehren mußte.
So stand die arme Vera von nun an einsam und verlassen in allen Pausen abseits von der fröhlichen Gemeinschaft der andern. Mit sehnsüchtigen Augen blickte sie auf das muntere Treiben, auf die lustigen Spiele, von denen man sie ausschloß.
Sie zerbrach sich den Kopf, was sie der hübschen Annemarie, die ihr von all den Kindern am besten gefiel, bloß zuleide getan habe, daß sie plötzlich so unfreundlich zu ihr war. Vielleicht hatte sie irgend etwas mißverstanden, da sie doch nur so wenig Deutsch konnte. Auf jeden Fall wollte sie es noch mal versuchen, sie freundlicher zu stimmen.
Als Vera einige Tage darauf von ihrer Tante, bei der sie jetzt wohnte, einen besonders schönen Apfel mit in die Schule brachte, faßte sie schweren Herzens den Entschluß, sich von demselben zu trennen und ihn Annemarie zu schenken. Sicher würde sie dann wieder mit ihr gut werden.
»Da,« sagte sie, als Annemarie Braun an ihr vorüberging und mit ihrem Blick ein Loch in die Luft bohrte, nur um Vera nicht sehen zu müssen, »da – biete, nemmen Sie«, soviel hatte die Kleine inzwischen schon von der deutschen Sprache gelernt. Damit hielt Vera ihr den herrlichen, rotbackigen Apfel an den Mund.
Aber Annemarie stieß ihn so unsanft zur Seite, daß er der Kinderhand entsprang und unter den Klassenschrank rollte.
»Von dir nehme ich nichts geschenkt!« rief sie verächtlich.
Vera schossen die Tränen in die Augen, während sie sich bückte, um ihren Apfel aufzuheben. Die prächtige Frucht, über die sie sich so gefreut, schmeckte ihr jetzt gar nicht.
»Ich gehe nicht mehr in die Schule«, erklärte Vera zu Hause bei der Tante nach dieser schroffen Abweisung weinend. Trotzdem sie Deutsch sprechen sollte, gebrauchte sie, wenn sie erregt war, nur die polnische Sprache. Ihr Vater war meist auf Reisen gewesen, und die Dienstboten, denen Vera überlassen war, sprachen nur Polnisch.
Die Tante, eine Schwester ihres Vaters, verstand Polnisch. Sie war vor ihrer Verheiratung viel in Czernowitz im Hause ihres Bruders gewesen, da Veras Mutter, eine Polin, früh gestorben war. »Warum denn nur, Herzchen?« fragte sie ganz erstaunt.
»Die Kinder sind so häßlich zu mir – keins will mit mir gehen – ich will wieder nach Czernowitz zu meinen Freundinnen!« weinte die Kleine schmerzlich.
»Sprich Deutsch, Vera!« mahnte die Tante. »Wenn du stets nur Polnisch redest, verstehen dich die Kinder in der Schule nicht. Dann ist es erklärlich, daß sie nicht mit dir gehen mögen. Je schneller du Deutsch lernst, um so rascher wirst du dich mit ihnen anfreunden.« So tröstete die Tante.
War das wirklich nur der einzige Grund? Aber Annemarie und Margot waren doch in der ersten Pause, wo sie sich ebensowenig verständigt hatten, so nett mit ihr gewesen.
Auch ihr Vater, der als Freiwilliger gegen die Russen bei Augustow kämpfte, antwortete seinem Töchterchen auf ihren Klagebrief, sie müsse möglichst schnell die Sprache der Kinder erlernen, dann würde es sicherlich besser mit dem Verkehr werden. Nun gab sich Vera grenzenlose Mühe, sich die schwere deutsche Sprache zu eigen zu machen.
»Ist es nicht unrecht von uns, daß wir uns so abscheulich gegen Vera Burkhard benehmen?« sagte eines Tages Ilse Hermann zu ihrer Freundin Marlene Ulrich zweifelnd. »Sie kann doch eigentlich nichts dafür, daß ihre Mutter Polin war! Und ihr Vater soll ja Deutscher sein!«
Auch Marlene hatte schon Ähnliches gedacht. »Wollen wir sie auffordern, mit uns zu gehen?«
»Nee, dann ist Annemarie mit uns schuß, und alle Kinder halten uns für unpatriotisch!« Die gute Regung in den Herzen der beiden kleinen Mädchen wurde durch falsche Scham wieder erstickt.
Annemarie Braun trieb es am schlimmsten mit ihrer Feindschaft gegen die »Polnische«. Diesen Spitznamen hatten die bösen Mädel Vera angehängt. Sie fühlte die Verpflichtung, den andern mit »gutem Beispiel« voranzugehen.
Heute regnete es vom Himmel, was nur herunter wollte. Annemarie hatte keinen Schirm. Jeden Tag vergaß sie in ihrer Unbedachtsamkeit irgendwas anderes. Mal den Federkasten oder ein Heft, mal das Frühstück oder die Gummischuhe. Heute war es zur Abwechslung der Regenschirm. Sie hatte es zwar gleich morgens früh unten auf der Straße gemerkt, aber war in ihrer Sorglosigkeit nicht noch mal umgekehrt. Sie ging ja mit Margot Thielen, die hatte sicher einen Schirm, die vergaß nichts. Die nahm sie gern mit unter ihr Regendach, das war auch viel gemütlicher.
Nun mußte sich Margot aber unglücklicherweise gerade heute von der Schule aus mit ihrer Mutter treffen, die für ihr Töchterchen einen Wintermantel besorgen wollte.
»Bis mittags kann es lange aufhören zu regnen«, tröstete sich Annemarie.
Es hörte aber nicht auf, im Gegenteil, es regnete »kleine Schusterjungs«, wie der Berliner zu sagen pflegt.
Selbst Doktors Nesthäkchen, dem solche kleine Dusche nichts weiter auszumachen pflegte, war das ein bißchen zu toll. Es lief, so schnell es nur konnte, möglichst an den Hausmauern entlang, an denen die Balkone etwas Schutz gaben, zur Bahnhaltestelle.
Da hörte sie einen eiligen Schritt hinter sich, es hörte sich an, als ob jemand sie einholen wollte.
Annemarie wandte den Kopf. Ein Schulkind kam mit einem Regenschirm hinter ihr hergejagt. Der Schirm verbarg das Gesicht der Betreffenden. Annemarie blieb jedenfalls stehen und ließ das Mädchen näher kommen. Vielleicht war es aus ihrer Klasse, oder sie kannte es, daß sie es bitten konnte, sie bis zur Haltestelle mit unter ihren Schirm zu nehmen.
Der eilig laufende Regenschirm kam heran – ein zartgerötetes, feines Gesichtchen, von feuchten, schwarzen Locken