Trotz Annemaries Eile blieb ihr Vera dicht auf den Fersen, jetzt hatte sie den triefenden Blondkopf erreicht, nun lief sie dicht neben ihm her.
»Komm biete unterr meine Schirrm«, Vera hatte in kurzer Zeit durch ihren Fleiß erstaunliche Fortschritte im Deutschen gemacht. Nur das schnarrende Er konnte sie sich nicht abgewöhnen. Deswegen wurde sie von den Mitschülerinnen oft verlacht.
Solche Dreistigkeit! Annemaries Augen blitzten vor Empörung.
»Mit dir gehe ich nicht unter einen Schirm, du – Polnische!« Da hatte sie doch tatsächlich dem armen Kind den Spitznamen an den Kopf geworfen.
Vera hatte zum Glück trotz ihrer Fortschritte im Deutschen die ganze Verachtung, die in diesen Worten lag, nicht begriffen. Nur soviel hatte sie verstanden, daß Annemarie Braun nicht mit ihr zusammen unter dem Schirm gehen wollte.
»Nemmen du ihm – ich haben Gummimantel, nicht werden serr naß«, damit hielt das gutherzige, kleine Mädel ihrer Feindin den eigenen Regenschirm hin.
Das Blut schoß Doktors Nesthäkchen ins Gesicht. Aber das war nicht mehr die Röte der Empörung, das war peinlichstes Schamgefühl. Zum erstenmal kam Annemarie ihre ganze Schlechtigkeit der »Polnischen« gegenüber zum Bewußtsein. Und zum Lohn dafür bot ihr Vera ihren eigenen Regenschirm an, wollte sie statt ihrer bei dem furchtbaren Regen naß werden!
Stumm schüttelte Annemarie den Blondkopf, sie brachte kein Wort, weder ein freundliches, noch ein unfreundliches über die Lippen. Dann lief sie, was sie nur konnte, davon zur Haltestelle.
Vera folgte langsam mit wehem Herzen.
Als die Elektrische endlich kam, war auch Vera am Halteplatz angelangt. Sie wohnte ebenfalls in Charlottenburg und fuhr täglich die weite Strecke.
Annemarie und Margot hatten es stets einzurichten gewußt, daß sie nie dieselbe Bahn mit der »Polnischen« benutzten. Heute stieg Vera hinter Annemarie ein.
Diese machte ein bitterböses Gesicht. Das galt aber eigentlich gar nicht Vera, sondern entsprang dem quälenden Gefühl, daß ihre Feindin, gegen die sie die ganze Klasse aufgehetzt, tausendmal besser war als sie selbst.
Die Bahn war überfüllt.
»Geht bis hinten an die Tür, Kinder«, sagte die Schaffnerin.
An Stelle der im Felde weilenden Männer taten jetzt fast in allen Bahnen Frauen den Dienst.
Da standen nun die beiden Feindinnen dicht nebeneinander in der überfüllten Bahn. Bei jeder Biegung, bei jedem Schleudern des Wagens flogen sie aneinander – beiden gleich unangenehm.
Annemarie hatte ihr Fahrgeld bezahlt. Auch Vera zog ihr Geldtäschchen hervor.
»Ich – ich haben nurr fünf Pfenniger«, stotterte sie, ängstlich in ihrem Täschchen herumsuchend – mußte sie nun aussteigen?
»Deine kleine Schulfreundin kann ja mal für dich auslegen«, meinte die Schaffnerin.
Vera sah Annemarie mit ihren schönen Augen bittend an.
Aber die kleine »Freundin« tat, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Unentwegt blickte sie zur Seite durch die bespritzte Scheibe, durch die man vor lauter Regengrau nichts sah.
Dabei spiegelte sich in Annemaries offenem Kindergesicht ein lebhafter Kampf wider. Sie hatte genügend Geld bei sich, sollte sie Vera, die ihr den eigenen Regenschirm geben wollte, nicht die fehlenden fünf Pfennige leihen? Wollte sie wirklich zulassen, daß sie bei dem scheußlichen Wetter aussteigen und zu Fuß gehen mußte?
Aber der »Polnischen« zu Hilfe kommen – nein, das durfte kein deutsches Mädchen tun! Das Gute in Annemaries Herzen, das beinahe schon die Oberhand gewonnen, verkroch sich wieder vor ihrer falschen Vaterlandsliebe.
»Hier ist das Geld für das kleine Mädchen«, eine freundliche Dame legte die fünf Pfennige zu.
»Danke serr«, mit zuckender Lippe flüsterte es Vera, während eine große Träne an ihren langen Wimpern blinkte.
Da machte die Elektrische eine unvermutete Wendung, die stehenden Fahrgäste bekamen einen starken Ruck. Annemarie wurde auf Vera geschleudert. Ob sie wollte oder nicht, in dem Bestreben, nicht zu fallen, klammerte sie sich mit beiden Händen an Veras Arm.
Nein, war das schrecklich! Die kleine Blonde brachte nicht einmal ein »Entschuldige« über die Lippen. Sie hastete aus der Bahn zu kommen, trotzdem die Haltestelle, die ihrer Wohnung zunächst lag, noch gar nicht erreicht war. Lieber wurde Annemarie bis auf die Haut naß, als daß sie noch länger neben der Feindin stand.
Merkwürdig – Doktors Nesthäkchen war heute gar nicht so von Herzen vergnügt wie sonst. Still und bedrückt ging es umher. Ihr häßliches Verhalten gegen Vera ließ keine Fröhlichkeit bei Annemarie aufkommen. Hatte sie recht gehandelt? Zum erstenmal wurde sie an sich selbst zweifelhaft. Und war doch immer so stolz auf ihre Vaterlandsliebe gewesen, welche die Feindin von jeder Gemeinschaft ausschloß.
Ob sie sich bei Großmama Rat in ihrer Bedrängnis holte? Ach, Großmamas warmherziges Wesen würde es gar nicht begreifen, daß man so schlecht zu einem anderen Kinde sein konnte. Nein, vor Großmamas gütigen, klaren Augen schämte sie sich.
Und Fräulein? Die würde ihr sicherlich auch unrecht geben, Annemarie fühlte es deutlich.
Wenn doch Mutti da gewesen wäre! Mutti würde sie verstehen und ihr helfen! Nesthäkchens Sehnsucht nach der fernen Mutter war noch niemals so stark gewesen wie an dem heutigen Tage.
Hans hatte Pfadfinderdienst. Aber Klaus steckte nebenan im Zimmer Fähnchen auf die große Kriegskarte. Er verfolgte jede Änderung in der Front mit einem Eifer, den er niemals seinen Schulbüchern gegenüber zeigte.
»Kläuschen,« Annemarie legte dem Bruder die Hand auf die Schulter, »du, ich muß mal was mit dir besprechen.«
Klaus ließ sich nicht stören, sein schwarz-weiß-rotes Fähnchen nach Ypern heranzuschieben.
»Haste was ausgefressen?« fragte er gleichmütig.
»Nee, das heißt, ich weiß nicht!«
Klaus sah sie ziemlich geringschätzig an. Na, das wußte er immer, wenn er was ausgefressen hatte.
»Ich habe dir doch von der ›Polnischen‹ in unserer Schule erzählt?« begann die Schwester wieder.
»Jawoll« – Klaus wurde aufmerksam. »Habt ihr sie vertobakt?«
»Nee, aber ich bin so gemein zu ihr. Heute hat sie mir ihren Regenschirm angeboten, und – und ich – ich habe nicht mal die fünf Pfennige in der Elektrischen für sie ausgelegt.« Annemarie wurde in Erinnerung daran wieder rot.
»Haste ganz recht getan – unsere Feinde sind gegen uns auch gemein, dann müssen wir es auch gegen sie sein!« Da hatte sich Nesthäkchen einen schlechten Ratgeber ausgesucht.
»Übrigens, Annemie, am Ende ist die überhaupt eine russische Spionin!« Klaus hatte nämlich augenblicklich die Spionenkrankheit. Jeden etwas fremdländisch aussehenden Menschen hielt er für einen Spion. Neulich hatte es ihm sogar eine Ohrfeige eingetragen, weil er einen Polizisten auf einen mit einem Amerikaner englisch sprechenden Herrn aufmerksam gemacht hatte. Der hatte sich, nachdem er sich ausgewiesen, zu Klaus umgedreht und ihm handgreiflich klar gemacht, daß dies eine echte deutsche Backpfeife war, die er ihm verabfolgte. »So, mein Junge, du wirst sobald nicht wieder jemand mit deinem Spionenverdacht lästig fallen!«
Aber Klaus war durch eine Ohrfeige noch lange nicht kuriert. Auch jetzt stand es bombenfest bei ihm, daß Annemaries »Polnische« eine Spionin sei.
Ob Klaus recht hatte? Dann war sie ja noch gar nicht abstoßend genug gegen Vera gewesen. Spione sind ehrlose Menschen, die für Geld Landesverrat üben, das hatte Hans ihr erst neulich erklärt. Und so eine sollte Vera sein? Das Bild des lieblichen, kleinen Mädchens tauchte vor Annemarie auf – nein, das war doch nicht denkbar! Aber stand jetzt nicht in allen Bahnen: »Soldaten! Vorsicht bei