Nicht nur im Clarsenschen Kinderheim hatte Aufregung und Erwartung Platz gegriffen. Ganz Wittdün, ja sogar die gesamte Insel Amrum war von der bevorstehenden Ankunft der Prinzessin Heinrich aus dem ruhigen Gleichgewicht gekommen. Im Kurhaus, ihrem Absteigequartier, wurde geseift, gescheuert und Betten und Polstermöbel geklopft, als ob seit Jahren nicht reingemacht worden wäre. Dabei war es dort stets bekannt sauber. Die Badedirektion plante eine italienische Nacht am Strande mit bunten Lampions und ein Tanzfest an Bord eines großen Dampfers. Auch die Badegäste, vor allem die Kinder, waren ganz aus dem Häuschen. Jede Burg wurde besonders schön geschmückt zum Empfang der Prinzessin.
Aber auch in die alten, friesischen Fischerhäuschen, in dem das Leben so ruhig und gleichmäßig dahinzufließen pflegte, drang die allgemeine Erregung. Die friesischen Frauen und Mädchen suchten ihren schönsten Sonntagsstaat zusammen, denn sie sollten an der Dampferanlegestelle in ihren kleidsamen Trachten die Frau Prinzessin begrüßen. Die Männer aber, die kühnen unerschrockenen Seeleute der Insel, schmückten ihre Boote mit Tannenreisern und Heidekraut, um dem Dampfer Ihrer Hoheit entgegenzusegeln.
In Villa Daheim war man inzwischen auch eifrig an der Arbeit. Da wurden Girlanden aus gelbem Ginster, rosa und violetten Strandnelken, aus blauer Glockenheide und stachliger Seemannsstreu gewunden und damit das Gartengitter und das Portal geschmückt. Das war das Werk der Mädchen: die Knaben aber hatten schwarzweißrote Papierfähnchen geklebt und sie allenthalben dazwischen angebracht. Es machte sich ganz wunderhübsch. Auch ein Verschen hatte Fräulein Mahldorf verfaßt. Eigentlich sollte es Annemarie Braun hersagen und dazu Rosen aus dem Garten überreichen, weil der Gedanke von ihr herrührte. Schließlich aber fanden die Damen es doch netter und anspruchsloser, wenn das Kleinste des Kinderheims das Verschen sprach. Für alle Fälle konnte ja Annemarie es mitlernen, wenn Klein-Annekathrein vielleicht zu schüchtern war. So erschallten die Stimmen der beiden Kinder jetzt um die Wette durch Villa Daheim, wo sie gingen und standen, übten sie ihr Verschen.
Endlich war der große Tag herangenaht. And als ob die Sonne wüßte, daß es ihre Pflicht war, heute besonders strahlend zu scheinen und Meer und Dünen mit goldenen Lichtern zu übersprühen, schien es der allerschönste Tag im Jahre. »Echtes Prinzessinnenwetter,« meinten die Kinder. Kein Wölkchen am Himmel, der in seiner tiefen Bläue mit dem Meere wetteiferte.
Die Clarsenschen Kinder waren heute in ihrer begreiflichen Aufregung kaum zu bändigen. Soviel Schelte hatte es das ganze Jahr nicht gesetzt. Besonders der Peter, das schwarze Schaf des Kinderpensionats, trieb nichts als Unfug. Hier zerknitterte er der Gretli durch heimliche Knüffe das schön geplättete Stickereikleid, dort zupfte er der Vroni ein paar Rosenblätter aus ihrem Haarkranz. Sich selbst aber setzte er auf eine frisch angestrichene, grüne Gartenbank, daß die Rückseite seines weißen Leinenanzuges wie ein Spinatbeet anzusehen war.
»Jung, wo sühst du aus!« rief oll Modder Antje, die grade in ihrem höchsten Kirchenstaat durch den Garten daherkam, um an der Landungsbrücke mit den anderen Friesinnen Aufstellung zu nehmen. Vadder Hinrich war bereits mit seinem Boot in See zur feierlichen Einholung. »Paß Achtung, dein Achterseit (Rückseite) ist jo grün, du mußt dir umziehn, min Jünging.«
»Ach was, die Prinzessin sieht mich ja bloß von vorn«, sowas genierte einen hohen Geist wie Peter nicht. Er trug nur Sorge, daß Tante Lenchen oder eine der anderen Damen ebenfalls bloß seine Vorderseite zu sehen bekamen. Dies hinderte ihn aber nicht, plötzlich ins Haus zu stürzen mit dem lauten Ruf: »Sie kommen – sie kommen!« Natürlich brachte er alles in wilden Aufruhr, und als man Hals über Kopf zur Gartenpforte stürzte, war natürlich noch gar keine Spur von der Prinzessin zu sehen. So ein Schlingel!
Nun aber war es endlich so weit, das zeigten die Böllerschüsse vom Landungssteg her an. Dort hatten unter dem Triumphbogen aus Tannengrün, mit Fahnen und dem preußischen Adler als Banner in der Mitte, die Frauen und Mädchen der Insel im Feststaat Aufstellung genommen. Ein wunderschönes Bild gaben die stattlichen, blauäugigen germanischen Gestalten mit ihren reichen, blonden Haaren unter dem kleidsamen Häubchen, den sorgsam gefalteten Schürzen über den weiten knisternden Seidenröcken und dem alten Bauernschmuck auf dem geblümten Mieder. Das fanden auch die Kurgäste, die sich in Scharen an das Geländer des Steges drängten. Besonders oll Modder Antje mit ihrem runzligen braven Gesicht unter all dem jungen Blut wirkte rührend. Sie hatte als älteste den Ehrenplatz in der Mitte.
Auch der Prinzessin Heinrich, die beim Landen von den Herren der Badedirektion begrüßt wurde, fiel das alte Mütterchen unter den blühenden Friesinnen auf. Freundlich sprach die Prinzessin es an und fragte es nach seinem Namen.
»Oll Modder Antje, dat weiß jo hier jedes Kind,« gab die verwundert, daß eine Prinzessin das nicht mal wußte, zur Antwort.
»Ich freue mich, daß Sie noch so rüstig sind.«
»Ih, dat soll woll so sind. Aber wat oll Vadder Hinrich is – de Fru Prinzessin hat ihn all kennen lernt, indem dat er ihr doch entgegengefohren is – jo, wat der is, der is noch all ganz fixing bei Weg, better (besser) als ick.« Es machte Mutter Antje keinen großen Unterschied, ob sie mit einer Prinzessin sprach oder sonst mit einem Badegast. Aber als diese der alten, treuherzigen Frau jetzt leutselig die Hand reichte, ehe sie weiterschritt, meinte Mutter Antje doch erfreut zu ihrer Gevatterin: »Kiek eins, wo fründlich so’ne Fru Prinzessin sein dut!«
Vor Villa Daheim warteten inzwischen die Clarsenschen Kinder, ganz allerliebst in ihren weißen Stickereikleidern mit den Rosenkränzen im Blond-und Braunhaar anzusehen, neben den Damen in atemloser Spannung. Besonders Klein-Annekathrein, die einen Busch roter Purpurrosen im Händchen hielt, war ganz blaß vor Aufregung. Wenn sie nun mit ihrem Vers stecken blieb – immer wieder betete die Kleine den Anfang: »Im freundlichen, meerumkränzten Wittdün« vor sich hin. Tante Lenchen tat es schon leid, daß sie das arme Kleinchen mit dieser Aufgabe betraut. Die Annemarie wäre entschieden kecker gewesen.
Die stand hinten in der dritten Reihe auf den Zehenspitzen und reckte vergebens den Hals, um etwas zu erspähen. Solche Gemeinheit – da hatten sich die Lies’ und Lott’, die beiden langen Backfische, grade im letzten Augenblick vor sie hingestellt. And die rückten und rührten sich auch nicht von der Stelle, ob Annemarie auch heimlich puffte und schubste.
Die Tränen waren dem armen kleinen Mädel nah. Nun sollte eine Prinzessin vorbeikommen, und sie konnte sie nicht sehen! Da fiel ihr Blick auf die Nebenvilla, in der ebenfalls ein Kapitän wohnte. Als Zeichen dafür war vor dem Hause, wie überall auf der Insel, ein hoher Segelmast aufgepflanzt.
Wer aber saß da oben an der höchsten Spitze des Segelmastes? Kein anderer als der Peter, der sich diesen hohen Auslug als besten Platz ausgesucht hatte. Seine grüne Rückseite war den Untenstehenden leuchtend zugekehrt.
Da besann sich Doktors Nesthäkchen nicht lange. Ganz dicht neben ihr stand ja auch der Clarsensche Segelmast. War sie nicht in Arnsdorf mit Klaus um die Wette auf die höchsten Bäume geklettert?
Während Ihre Königliche Hoheit sich vom Landungssteg her der Villa näherte, während aller Augen gespannt die Straße entlang gerichtet waren, begann Annemarie lustig an dem Segelmast emporzuklimmen. Sie war eine tüchtige Turnerin – bald saß sie hoch oben wie der Peter.
War das famos! Annemarie dachte nicht an ihr reines Stickereikleid, nicht daran, daß sie ja für alle Fälle als Ersatz für Klein-Annekathrein den Willkommensvers sprechen sollte. Die beobachtete nur, wie die Prinzessin mit ihrem Gefolge näher und näher kam – so fein wie sie konnte außer dem Peter sicher kein anderes Kind sehen!
»So, Annekathrein, jetzt tritt vor und sprich laut,« flüsterte Tante Lenchen der Kleinen zu, als die Prinzessin nur noch wenige Schritte