»Nun ist's genug«, sagte Frau Bender. »Roller und Rad werden nicht mehr angerührt. Wir gehen jetzt hinüber zum Essen. Aber vorher wird noch ein Weihnachtslied gesungen.«
Da klang das schöne Lied vom »Tannenbaum« auch schon durch das Zimmer. Der Jule hatte wenig Interesse für den geschmückten Baum, er blickte verzückt nach seinem Rade, während Pommerle glücklich das Grauchen und die neue Puppe abwechselnd streichelte. Der Jule mußte mehrfach ermahnt werden, mitzusingen. Das Fahrrad füllte seine Gedanken vollständig aus.
Dem Jule wollte es heute nicht recht schmecken, obwohl er Besseres erhielt als das, was er bei Meister Reichardt vorgesetzt bekam.
»Ob der Meister nicht auf mich warten wird?« sagte er. Der Meister wartete bestimmt nicht. Aber der Jule wollte zu gern das Rad probieren. Das Stillsitzen bei Tische war fürchterlich. Und plötzlich begann er unter dem Tisch taktmäßig zu treten. Er bildete sich ein, er sitze auf seinem wunderschönen Rade. Schneller, immer schneller.
Bum – bum – bum. Der erregte Jule schlug mit den arbeitenden Knien gegen die Tischplatte und kam durch diese Geräusche erst wieder zur Vernunft. Er wurde dunkelrot vor Verlegenheit.
»Ist das aber ein komischer Tisch«, meinte er, »so niedrig.«
Benders sagten nichts dazu. Nur als Pommerle plötzlich mit den Händen vom Teller ein Stückchen Fleisch nahm und in die Tasche verschwinden ließ, fragte die Tante:
»Was machst du denn da, Pommerle?«
»Ich will dem Grauchen nachher den Weihnachtsbraten bringen.«
»Und da steckst du das fettige Fleisch in die Kleidertasche?«
Das Kind holte das Stückchen Fleisch wieder heraus und legte es auf den Teller. »Nun ja, Grauchen kann auch vom Teller essen.«
Abermals schlug des Jules Knie dröhnend gegen den Tisch.
»Ich kann wirklich nicht mehr essen«, meinte der Knabe. »Ich bin bis oben in den Hals hinein vollgestopft.«
Aber er mußte warten, bis man fertig gegessen hatte.
»Nun möchte ich gehen, es wird sonst zu spät.«
»Meinetwegen, nun gehe«, meinte Professor Bender. »Wenn du den heutigen Abend nicht mit uns verleben willst, so gehe heim. Aber nicht mehr zu lange auf den Straßen bleiben und niemanden umfahren.«
Die Kinder drängten zurück ins Weihnachtszimmer. Professor Bender folgte ihnen, denn er hatte Sorge um den Weihnachtsbaum, den Spiegel und die anderen Möbel.
Jule griff nach seinem Rade. »Guten Abend.«
Er ging zur Tür.
»Was soll denn mit deinem bunten Teller werden, Jule?«
»Ach so –«
»Und mit den Pulswärmern und den Strümpfen? Und das Buch siehst du wohl auch nicht?«
»Das hole ich mir morgen ab. – Nun muß ich aber gehen.«
Er hatte die Zimmertür weit geöffnet und schob das Rad hinaus.
»Jule«; klang es hinter ihm her.
»Das hole ich mir alles morgen!« Der Knabe stand schon im Hausflur.
»Komm noch einmal zurück, Jule. Hast du nicht etwas vergessen, mein Kind?«
»Ich habe doch schon gesagt, daß ich mir das andere morgen hole.«
»Nein, Jule, du hast noch etwas anderes vergessen.«
Die Augen des Knaben glitten über den Gabentisch hinweg. Verständnislos schaute er auf den Professor.
»Ach, Jule, du bist doch ein recht undankbarer Knabe. Haben wir dir heute eine Freude gemacht?«
»Na und ob!«
»Und was tust du nun?«
»Ich fahre den ganzen Abend auf den Straßen spazieren«, klang es beglückt zurück.
»Ich lasse dich aber nicht eher fortgehen, Jule, bis dir eingefallen ist, was man tut, wenn man von einem anderen Menschen beschenkt wurde.«
Der Jule schlug plötzlich die Augen zu Boden. Dann faßte er nach der Hand des Professors und sagte stotternd:
»Wenn ich mich eben so furchtbar freue, habe ich an nichts anderes gedacht. Ich danke Ihnen auch sehr schön, Herr Professor, Ihnen auch – na, wo ist denn die Frau Professor? Und dir, Pommerle, danke ich auch. Das Pommerle hat sich ja auch noch nicht bedankt für das Grauchen.«
Das Kind eilte herbei und umschlang den Spielgefährten.
»Wenn auch das Grauchen jetzt bei uns wohnt, Jule, soll dir doch davon die Hälfte gehören. Ach, ich freue mich so!«
»Und ich danke auch schön für die Pulswärmer. Aber nun muß ich fort. Ich danke Ihnen wirklich sehr, Herr Professor. Und morgen komme ich wieder, da fahre ich her. – Ich danke Ihnen, daß ich fahren darf. Ja, wirklich, ich danke Ihnen. – Na, wo ist denn die Frau Professor? Ich will doch endlich losfahren!«
Tante Bender nahm den hochgeschossenen Lehrling in die Arme, klopfte ihm zärtlich auf die Schulter und sagte:
»Möge dir das Rad viel Freude machen, Jule. Nur sei nicht zu übermütig und nimm auf die Fußgänger auch Rücksicht. Betrage dich so, daß das Rad sich deiner nicht zu schämen braucht.«
»Ich werde immer ganz laut klingeln!«
Dann war der Jule fort. Er fuhr schon durch den Vorgarten, mußte an der Gartenpforte freilich absteigen, und ehe er die Straße erreicht hatte, vernahmen Benders noch laute Rufe, die stieß der Jule aus; er mußte seiner großen inneren Freude erst einmal Luft machen. Daß er an diesem Abend noch etwa zwanzigmal am Hause des Professors vorüberfuhr, das wußten Benders freilich nicht, und jedesmal, wenn er die Villa sah, riß der Jule die Mütze vom Kopf, schwenkte sie gegen das Haus und rief:
»Ich danke, ich danke!«
In der Weihnachtsstube war es durch das Fortgehen Jules stiller geworden. Professor Bender und seine Frau saßen auf dem Sofa und riefen ihr Pflegetöchterchen herein.
»Jetzt setze dich einmal zu uns, Pommerle. Der Onkel will dir von einer großen Weihnachtsfreude erzählen, die er uns allen dreien macht. Du wirst es noch nicht recht verstehen, aber du bist ein kluges Mädchen, du mußt jetzt gut aufpassen.«
»Bekomme ich noch was?«
»Ja, Pommerle, wir bekommen eine kleine Tochter, und du bekommst einen Vati und eine Mutti.«
»Einen Vati? – Einen Vater?« fragte das Kind mit bebender Stimme.
»Dein Vater und deine Mutter sind oben im Himmel. Da wurde uns ein Englein auf die Erde gesandt, gerade jetzt, zum Weihnachtsfeste, mit der Nachricht: ›Onkel Bender und Tante Bender, ihr seid immer so allein, und das Pommerle ist auch so allein und hat keine Eltern. Wollt ihr nicht die neuen Eltern vom Pommerle sein?‹«
Das Kind schaute von einem zum anderen.
»Wenn wir nun wollen, so können wir dich, kleines Pommerle, von jetzt ab als unser richtiges Kindchen annehmen. Bis jetzt bist du bei uns immer nur als unser Pflegetöchterchen gewesen. Sage mal, möchtest du nicht gern wieder einen Vati und eine Mutti haben?«
»O ja!«
»Dann wollen wir von heute an dein Vati und deine Mutti sein, nicht mehr Tante und Onkel, sondern dein zweiter Vater und deine zweite Mutter.«
»Solche Stiefeltern, wie sie die Ilse hat?«
»Eltern, die treu für dich sorgen wollen, mein Kind, die alle Elternrechte über dich haben. Das kannst du noch nicht verstehen. Aber das eine sollst du wissen, daß du in uns nun wieder deinen Vater und deine Mutter sehen sollst. Nun sage, mein liebes Kind, willst du uns von nun an ›Vati‹ und ›Mutti‹ nennen?«
»Vati