Das Buch des Kurfürsten. Marlene Klaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marlene Klaus
Издательство: Bookwire
Серия: Kurpfalz-Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941408364
Скачать книгу
würde, er nächtigte ja nicht in der Kanzlei. Auch seinen Namen kannte er. Er hatte Hedwig und Juli entführt, um ihn zu Einbruch und Diebstahl zu zwingen. Das bedeutete, er wusste, wo sie wohnten, hatte ihr Leben ausgespäht. Also war diese Sache von langer Hand geplant.

      Er schlug die Faust auf den Steinboden, auf dem er hockte. So ein Hurensohn! So ein elender, scheißdreckiger Hurensohn! Sich vorzustellen, wie er hinter ihm oder Hedwig herschlich … Plötzlich hielt er inne. Wo hatte er Hedwig verborgen? Hatte er sie bei sich, hatte er sie irgendwo in der Nähe der Kanzlei versteckt? Womöglich hatte sie wenige Schritte von ihm entfernt gekauert und hatte mit anhören müssen, was man von ihm erzwang, hilflos, gefesselt, den Mund verstopft mit einem schmierigen Lappen, damit sie nicht schrie. Er geriet außer sich, wenn er sich das vorstellte. Er würde dem Strauchdieb nachher folgen. Er würde – jäh überfiel ihn ein anderer Gedanke: Was, wenn der Fremde einen Helfer hatte, der Hedwig bewachte? Denn nie und nimmer würde sie stillhalten. Es sei denn … Er rang nach Atem. Juli. Das Herz wollte ihm die Rippen sprengen.

      Gegen zwei würde er nicht ankommen. Was sollte er tun? Hilfe? Die Kollegen? Wieder schlug die Faust auf den kalten Steinboden. Käme er mit Gefolge, der Spitzbube hatte es ihm eindringlich zugezischt, bevor er in die Kanzlei zurückgegangen war, käme er mit Gefolge, verriete er auch nur ein Wort des Vorhabens … Philipp schluckte. Er hatte nicht zu Ende sprechen müssen.

      Es gab keine Hilfe. Er musste tun, was man von ihm verlangte, wollte er Hedwig und Juli lebend wiedersehen.

      Er stand auf. Lauschte. Still.

      Vorsichtig öffnete er die Tür zum Vorraum, spähte hinaus. Schlich durch den Vorraum bis zur Registratur an dessen Ende. Er trat ein, ging zum Schreibtisch, auf dem noch Heberers Kiste mit den Oberpfälzer Briefen stand. Ein Griff in die Lade, der Schlüssel, die Tür zum nebenan liegenden Gewölbe aufschließen. Mit klopfendem Herzen drehte er sich um, äugte in die Stube zurück, lauschte erneut.

      Dann betrat er das Archiv. Die gesamte hintere Längsseite wurde von Holzregalen eingenommen, in denen Holzkisten lagerten. Kalt war es, es roch modrig, nach Verputz und dem alten Holz der Truhen, Leder. Philipp leuchtete Wände und Boden ab. Rundum dasselbe Bild: Regale an den Wänden. Kisten und eiserne Truhen auf dem Boden, die durch mehrere Schlösser gesichert waren. Der Boden war mit Holzbohlen ausgelegt, damit keine Feuchtigkeit die wichtigen Akten verdarb. Er hob wahllos den Deckel einer Holztruhe, die ihm am nächsten zur Linken am Boden stand. In Leder gebundene Bücher, zu Packen gebundene Papierseiten. Obenauf ein Papier. Er hielt es an die Laterne. Es war eine Auflistung dessen, was sich in der Truhe befand. Soweit er sehen konnte, enthielt die Kiste Akten aus jüngerer Zeit, 1594, 1593. Philipp wusste, dass im Archiv auch jene Sachen lagerten, die man im laufenden Tagesgeschäft nicht mehr benötigte. Er ging zum linken Ende des Raumes. Hier sah er Truhen aus Holz, die an den Seiten dick mit abgewetztem Leder bespannt waren. Er ging in die Knie, leuchtete mit der Laterne hinein, erkannte Schriftrollen, sah rote Siegel an braunen Bändern. Eine Rolle auf der anderen. Geruch nach altem Pergament und altem Siegelwachs stieg ihm in die Nase. Das Verzeichnis, das auch hier nicht fehlte, gab eine fein säuberlich geschriebene Übersicht über den Inhalt des Kastens. So wurde vermieden, dass man immer alle Briefe herausnehmen musste. Es sagte ihm, dass in der Truhe alte kaiserliche Privilegien lagerten. Erbverträge und dergleichen, noch aus uralten Zeiten. Schätze der Kurpfalz.

      Das brauchte er nicht. Er erhob sich, drehte sich um sich selbst. Wo lagerten die Kopialbücher? Sie waren ja nicht gerade klein. Und es mussten unzählige sein, denn für jeden Kurfürsten wurde ein neues Kopialbuch von jeder Art angelegt. Soweit er wusste, gab es vier verschiedene Arten. Das „perpetua“ enthielt die Abschriften jener Urkunden, die er soeben in der lederverkleideten Kiste gesehen hatte. Es gab eines, das „ad vitam“ hieß, es gab die Dienerbücher, in denen die Bestallungen festgehalten wurden. Und es gab die Lehenbücher. Die enthielten die Lehensbriefe der kurpfälzischen Vasallen. Reichsritterschaft.

      Philipp merkte, dass er zu zittern begann. Was bedeutete dies? War der Verhüllte ein Ritter? Was hatte er vor? Wozu brauchte er das Kopialbuch?

      Die Kopialbücher wurden sorgfältig gehütet, denn sie waren wichtig. Was, wenn jenes, das er holen sollte, gerade in Benutzung war, was durchaus vorkam, wenn es etwas zu klären gab. Er wusste, dass der Registrator eine Liste jener Schreiber führte, die eines der Bücher entliehen hatten. Und Lehenprobst Zweifel, der ebenfalls in der Registratur tätig war und die Lehenssachen bearbeitete, hatte ein ebenso wachsames Auge auf die ihm anvertrauten Unterlagen. Philipp hätte schreien mögen. Seine rechte Hand schmerzte, sein Kopf tat weh. Er durfte hier nicht sein. Er wollte hier nicht sein. Nachdenken. Er kannte die Sorgfalt, mit der Heberer arbeitete, um dem Durcheinander des Archivums Herr zu werden. Immer wieder klagte er über die Anstrengung, die es kostete, die alten Bestände in eine Ordnung zu bringen. Zwar standen Truhen und Kästen halbwegs sorgfältig in den Regalen und auf dem Boden, dennoch konnte Philipp keine bestimmte Gliederung erkennen. Er ging einige Schritte, leuchtete in den rechten hinteren Teil des Raumes, sah dort Säcke lagern, deren Ausbuchtungen darauf schließen ließen, dass auch sie Schriftrollen enthielten. Zwischen den Säcken standen Truhen, die in schlechtem Zustand waren, ihr Holz war an vielen Stellen morsch und faulig. Manche waren übereinandergestapelt, und im Laufe der Zeit waren einige der unteren Kisten eingebrochen von der Last jener über ihnen, müde vom Tragen. Philipp wurde zunehmend unruhiger. In dieser Ecke verschwendete er seine Zeit. Doch erst wenn er dem Entführer das Buch gebracht hatte, würde er erfahren, was weiter geschähe. Wann er Hedwig und Juli wiederbekäme. Und wie.

      Er wandte sich der gegenüberliegenden Ecke zu, leuchtete gewissenhaft die Regalreihen ab. In Augenhöhe vor sich hob er den Deckel eines Kastens – und fand, was er suchte. Im spärlichen Lichtschein erkannte er das Register, das ihm sagte, dass hier die Kopialbücher lagerten, die zu Regentschaftszeiten Ludwigs VI. angelegt worden waren, des Sohnes und Nachfolgers Friedrichs III. In den Reihen darüber standen wohl die Kisten mit den noch älteren Registerbüchern. Philipp stellte seine Lampe auf den Boden, hob den Kasten herunter und zerrte ihn ein wenig nach rechts auf eine andere Truhe zu, wobei er über das laute, schleifende Geräusch erschrak. Er hielt inne, lauschte.

      Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.

      Sonst Stille.

      Schließlich griff er die Lampe, stellte sie auf die Nachbartruhe, öffnete den Kasten und durchsuchte ihn. Dann hielt er es in Händen. Ledereinband mit gepresstem Druck, Verschlussbänder aus Leder. Das Lehenbuch Friedrichs III. Eine Auflistung jener Vasallen, denen damals ihre Lehen zugeordnet worden waren. Nachdenklich blickte er auf das dicke Buch in seinen Händen.

      Was wusste er über die Ritterschaft und das Lehenswesen? Ein Lehen war etwas, ein Dorf, eine Burg oder Zölle, das ein Lehensmann von seinem Lehensherrn, in diesem Fall dem Kurfürsten, geliehen bekam. Er wurde mit einem Lehensbrief in das Lehen eingesetzt. Dafür schwor der Lehensmann dem Lehensherrn einen Treueeid. Den Empfang der Güter und dass er den Eid geleistet hatte, beurkundete der Lehensmann durch ein Lehensrevers, das er an den Lehensherrn übergab. Er durfte das Lehen besitzen und nutzen, jedoch nur mit Zustimmung des Lehensherrn veräußern. So war es seit ewigen Zeiten, so war es bis heute. Damit niemand vergaß, wer wann von wem welches Gut oder Dorf als Lehen erhalten hatte, wurden Bücher darüber geführt, die eine Übersicht über die landesherrlichen Besitzungen gaben: die Lehenbücher.

      Dies konnte nur eines bedeuten: Der Verhüllte, der draußen irgendwo auf ihn lauerte, war wirklich ein Vasall. Oder handelte im Auftrag eines Vasallen. Philipp dachte an die ledernen Stulpenhandschuhe, verschlissen, fleckig … Warum wollte er das Kopialbuch haben? Er wollte … etwas ändern? Das konnte er doch nicht wagen! Die Kopialbücher waren sauber zu führen, man durfte keine Veränderungen vornehmen. Allein der Registrator, so wusste Philipp von Heberer, durfte, wenn er Mängel entdeckte, Berichtigungen einfügen.

      Nicht so viel nachdenken, Philipp Eichhorn, gemahnte er sich. Je weniger du weißt, desto besser. Bring ihm das Buch, es geht um das Leben deines Weibes! Tue, was er verlangt, und du wirst Hedwig und Juli wiedersehen.

      Entschlossen packte er Buch und Laterne und wandte sich der Tür zu. Er betrat die Schreibstube der Registratur – und zuckte jäh zusammen. Stimmen im Flur.

      Rasch schloss er die Tür zum Gewölbe,