Das Buch des Kurfürsten. Marlene Klaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marlene Klaus
Издательство: Bookwire
Серия: Kurpfalz-Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941408364
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Und warum?“

      „Um dir aufgeschossenem Unkraut eine zu verpassen, braucht’s keinen besonderen Grund.“ Noch einmal kam sein Gesicht nah heran. „Einfach – nur – weil – du – atmest.“

      Philipp hielt der Nähe stand. Starrte Nickel in die Augen. „Dann wag’s doch!“, zischte er.

      „Nimm’s Maul nicht zu voll!“

      Philipp ballte die Hände zu Fäusten. „Du streitsüchtiges Schandmaul! Dir steigt doch zu Kopf, dass dein Pumphahn nur bei Schafen zum Zug kommt!“

      Nickels Augen funkelten vor Zorn. Er streckte den Zeigefinger aus, hielt ihn Philipp drohend vors Gesicht.

      Wenn er mich auch nur mit dem Nagel seines dummen Fingers berührt …

      „Deine Nase soll im Arsch eines Hundes stecken!“, fauchte Nickel. „Ich hau dich zu Brei.“ Damit wandte er sich um und stapfte davon.

      „Vorher hau ich dich zu Brei!“, schnaubte Philipp hinter ihm her. Er musste sich zusammennehmen, um die Tür zur Schreibstube nicht zuzuschlagen. Drinnen stapfte er wütend vor dem Schreibtisch auf und ab. Nickel war ein Widerling. Eine Eiterbeule. Eine Ausgeburt an Boshaftigkeit. Eines Tages würde eine Prügelei unvermeidlich sein. Nickel legte es darauf an. Herrgott noch mal! Er blieb stehen und starrte auf die fertigen Zollzeichen auf dem Tisch. Jeder Versuch seinerseits, mit Nickel auszukommen, scheiterte an dessen verbohrter Feindseligkeit. Sämtliche Kanzleiverwandte bis hinunter zu den Knechten waren durch die Kanzleiordnung dazu angehalten, keine Streitigkeiten zu beginnen, innerhalb der Kanzlei keine Gruppe um sich zu bilden, keine üble Nachrede zu führen und so zu vermeiden, Zwiespalt hervorzurufen. Traten doch Uneinigkeiten auf, sollte man versuchen, diese gütlich beizulegen. Half dies nicht, hatte man sich an den Großhofmeister oder Kanzler zu wenden. Hätte er dies also nicht längst tun sollen? Sich wehren und an Culmann wenden? Philipp wusste, sein Stolz ließ nicht zu, dass er wie ein kleiner Junge heulend zum Vater rannte. Und er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Keine solche Aufmerksamkeit. Er wollte nicht unangenehm auffallen, auch wenn er Culmann, der das Amt des Vizekanzlers innehatte und, da es keinen Kanzler gab, dessen Geschäfte führte, seiner sachlichen Art wegen angenehm fand. Er wollte, dass man merkte, wie gewissenhaft und vorbildlich er seine Pflichten erfüllte. Er wollte oberer Kanzleiknecht werden. Und dann, verwegen zu denken: Skribent, das Wort, das einen ganz eigenen Zauber besaß und ausmachte, dass sein Herz mit großem Klopfen in seiner Brust schlug. Warum nicht? Mit Fleiß und Gehorsam konnte er das schaffen. Auch wenn er als Knecht unter allen Schreibern stand. Man konnte aufsteigen. Ahnte Nickel dies? Fühlte er, dass ihn, Philipp, ein Ehrgeiz trieb, der ihm gänzlich fremd war? Wie auch immer – Nickel quälte ihn. Er musste einen Weg finden, dies zu unterbinden.

      Aber nicht heute Abend! Heute war Martini. Hedwig, Juli, Kilian und die Freunde später im Wirtshaus. Er machte sich daran, die Zollzeichen in dem Kasten zu verwahren. Zollzeichenschreiber Wernig würde sie morgen beschriften, erst durch seine Schrift erhielten sie ihre Gültigkeit.

      Philipp dachte, dass die Männer, die noch immer in der Kanzlei arbeiteten, dies gewiss nicht mehr allzu lange tun würden – auch sie wollten sicherlich den Martinsabend mit einem Umtrunk beschließen.

       Drei

      Im Dunkeln mussten die Menschen den Weg mit den Ohren finden. Oder mit der Nase.

      Das gelang Hedwig inzwischen auch in Heidelberg. Wenn sie sich auch noch immer nicht so mühelos wie in ihrem Heimatdorf bewegte, wo sie sich vom Duft eines Geißblattbusches oder dem Gestank von Hübner Müllers Misthaufen hatte leiten lassen, so fand sie sich doch auch in Heidelberg am Kläffen der Hunde zurecht. Hatte zu Hause das Blöken der Schafe des Wersauer Schafshofs sie gelenkt, wenn sie nachts von einem heimlichen Treffen mit Philipp in ihr Elternhaus zurückkehrte, so wusste sie in der Stadt inzwischen um die Beschaffenheit des Straßenpflasters und wo sie Unebenheiten und Löchern ausweichen musste.

      Dennoch blieb sie nun zögernd am Anfang der Unteren Gasse stehen, die vor ihr lag wie ein schwarzes Loch. Das unbehagliche Gefühl wich nicht. Sie sah zurück zum Marktplatz, den sie eben überquert hatte. Laternen und Fackeln tupften Lichtpunkte in die Dunkelheit, ein Schragentisch wurde umflackert von Rübengeistern, ausgehöhlten und von innen her erleuchteten Rübenköpfen, die schaurig grinsten. Es raschelte, als die Händler ihre groben, wachsgetränkten Leinwände über ihre Verkaufstische breiteten. Dahinter leuchtete das Gemäuer von Heiliggeist rotbraun im Fackelschein. Die Bäcker und Kammmacher, Töpfer und Goldschmiede harrten noch in ihren Verkaufsbuden zwischen den Außenstreben der Kirche aus, um späte Geschäfte zu machen. Bis hierher roch es nach Brezeln und Wellfleisch, und aus der Richtung des Fischmarkts drang ihr der Geruch heißer Maronen in die Nase. Sie war zuvor an der Kirche stehen geblieben, hatte sich vom Duft der kleinen Mandelkuchen verführen lassen und beim Zuckerbäcker zwei davon gekauft. Dabei hatte sie sich beobachtet gefühlt und sich umgeschaut. Doch da war nichts gewesen. Etwas war nicht da und doch da, wie ein gestaltloses Gespenst. Sie fühlte sich unbehaglich, weil ihr der Mann vor der Kirche wieder einfiel, den sie vom Fenster aus gesehen hatte. Warum hatte sie nicht Appel gefragt, ob der ihr ebenfalls aufgefallen war? Wenn nein, täuschte sie sich wohl. Doch wenn ja, wäre es leicht gewesen, Herrn Belier darauf hinzuweisen. Vielleicht hätte er ihr Velten zur Begleitung mitgegeben. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sollte sie zurück?

      Sie betrachtete die Lichtflecken auf dem Marktplatz, spähte nach Gestalten. Ein Mann hielt eine Laterne hoch, sah einem anderen ins Gesicht und lachte. Ein Bauer schrie einem Jungen eine Anweisung zu. Flocken taumelten sacht aus der Schwärze des Nachthimmels.

      Sei nicht dumm, Hedwig, schalt sie sich. Hier gehen Leute in unterschiedlichsten Geschäften umher, Amtleute, Vasallen, Studenten. In einer Stadt wie Heidelberg ist doch stets etwas los. Kein Grund, sich Sorgen zu machen!

      Sie legte den rechten Arm um die schlafende Juli und sah auf die Giebelhäuser vor sich in der dunklen Gasse. Hier begann das Vierte Quartier, in dem sie und Philipp wohnten. Es war das Viertel östlich des Rathauses, zu dem auch die Jakober Vorstadt jenseits der östlichen Stadtmauer sowie Schlierbach gehörten, das jenseits des Neckargemünder Tores lag. Sie musste die Gasse nur weitergehen, fast bis zum Ende an der Stadtmauer. Auf deren Wehrgang würden zwei bewaffnete Wachmänner mit Fackeln Aufsicht halten. Am Jakober Tor selbst würde eine Laterne hängen, ein Licht, auf das sie zuhielt – tagein, tagaus auf dem Heimweg. Doch irgendwie weigerten sich ihre Füße weiterzugehen, was sie an die Angst ihrer Anfangszeit in Heidelberg erinnerte. Sie hatte mit Philipp hier leben wollen und war doch nicht darauf gefasst gewesen, wie sehr die unzähligen Wege, Pforten, Steinhäuser, Ladengeschäfte und vor allem die vielen Menschen sie verunsicherten. Inzwischen hatte sie sich gewöhnt an Studenten, die in fremden Sprachen miteinander plauderten. An fremdländisch aussehende Gelehrte, an Amtleute und Wachen, und auch die Ordnung der Gassen begriff sie. Von der schnurgerade von Ost nach West verlaufenden Hauptstraße gingen einerseits zum Neckar, andererseits zum Berg hin nach Art der Fischgräten die Gassen ab. Sie kannte die Gerüche nach Sand, Wasser, Pferd und Holz am Ufergelände der Froschau, wo sie im Sommer unterhalb der Neckarschule mit ihrer Tochter gesessen und zugesehen hatte, wie an der Pferdeschwemme die Pferde getränkt und die Floße draußen auf dem Wasser flussaufwärts getreidelt wurden. Sie war vertraut mit allem, es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Sie atmete durch und ging weiter. Philipp würde heute Abend etwas später kommen, da wegen der bevorstehenden Reise des Kurfürsten in die Oberpfalz viel zu tun war und die Kanzleiverwandten selbst auch länger blieben. Sie hatte also Zeit, Juli frisch zu wickeln und zu stillen und sich ein wenig hübsch zu machen. Ob sie die neuen Stiefel anziehen sollte? Vorfreude ließ sie schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie sie die Stiefel überzog. Sie hatten ausgemacht, dass Philipp sie abholte. Sie würden Juli in der Obhut Wittib Ringelers, ihrer Vermieterin, lassen und zusammen mit Kilian, der zu ihrer Wohnung kommen sollte, ins „Schwert“ zum Umtrunk gehen. Kilian wohnte nicht weit von ihnen, draußen in der Jakober Vorstadt, einen Steinwurf weit weg, wenngleich durch die östliche Stadtmauer getrennt. Dabei fiel ihr ein, dass Kilian Philipp gebeten hatte, Hedwig zu sagen, sie solle doch Appel am heutigen Abend mitbringen. Die Augenbrauen hatte sie hochgezogen, Philipp hatte geschmunzelt, sie in die Arme genommen, und lachend wie ein Verschwörerpaar hatten sie den armen Kilian