„Verbrecher können sich doch nicht einfach so in Luft auflösen“, erregte sich Ute so lautstark, dass ein paar Passanten sie erschrocken anschauten. Dann saßen sie nur noch schweigend auf dem Geländer, jeder in seine Gedanken versunken.
Motte ging wieder der Zeitungsartikel durch den Kopf. Auch bei den anderen Einbrüchen waren die Täter nie gefunden worden. Sollte sich jetzt das Gleiche wiederholen?
JoJos Vorschlag, „die Ermittlungsaktivitäten bis auf Weiteres auszusetzen“, wurde einstimmig angenommen, von Utes Gegenstimme einmal abgesehen. Für sie waren die Ermittlungen ohnehin nur ein Vorwand, in der Nähe von Simon zu sein.
Am nächsten Tag saß Motte mit seiner Familie beim heiligen Abendessen, Mama hatte Tofu-Würstchen mit Selleriegemüse aus ihrer Lieblingszeitschrift „Kochen, aber gesund“ serviert. Mit von der Partie war heute ein ganz besonderer Gast: JoJo. Sie hatten zusammen das Referat über die mittelalterliche Stadt vorbereitet, das sie in Geschichte halten sollten. Und danach war er zum Essen geblieben – zur größten Freude von Mama. JoJo war immer so etwas wie ihr Sorgenkind gewesen. Er tat ihr furchtbar leid, weil er keine „richtige Familie“ hatte. Sie sah ihn als ein armes, vernachlässigtes Kind, das den Verlockungen der modernen Zeit schutzlos ausgeliefert war: Fernsehen, Video, Computerspielen. Und natürlich dem ungesunden Essen. Seit Motte ihr einmal in einem unbedachten Moment von JoJos Matschmaschine erzählt hatte, war sie überzeugt, dass er nicht mehr lange zu leben hätte, wenn er nicht bald auf den Pfad der Bioernährung finden würde. Aber so oft sie ihn auch einlud, immer hatte er die schönsten Ausreden parat.
Heute jedoch hatte er sofort angenommen und seinem Dank mit den Worten „Lady, ich bin Ihren Kochkünsten schon längst hilflos verfallen“ Ausdruck verliehen. Den Spruch hatte er offenbar aus dem dritten Hamilton-Film, in dem der Kommissar der Mutter des Mörders mit ebendiesen Worten schmeichelt, um mehr über ihren Sohn zu erfahren.
Mama konnte natürlich nicht wissen, dass JoJos plötzliche Begeisterung weniger mit ihren Tofu-Würstchen und schon gar nicht mit dem Sellerie-Gemüse zu tun hatte als vielmehr mit der Projektwoche „Leben ohne Drogen“, die sie gerade in der Klasse hatten. Dabei ging es nicht nur um Drogen, sondern um den Umgang mit Süchten aller Art, zu denen auch Spielsucht, Fernsehsucht oder die Sucht nach Süßigkeiten gehörten. Heute in der sechsten Stunde hatte die Projektwoche mit den feierlichen Gelöbnissen ihren Höhepunkt erreicht. Jeder Schüler musste sich vor der Klasse verpflichten, zwei Wochen lang auf irgendeine der vielen Versuchungen zu verzichten.
Die Gelübde hatten sie ausgerechnet vor Siegwart abgeben müssen, der schon öfter gesichtet worden war, wie er des Nachts durch die Straßen torkelte. Er hatte eine Ansprache gehalten, in der er noch einmal weitschweifig den Sinn der ganzen Projektwoche erklärt und zum guten Schluss seiner Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, „dass ihr dadurch auf ein Leben mit Drogen vorbereitet werdet ... ähm ... ich meine ... ohne Drogen.“ Die meisten bemerkten den Versprecher gar nicht, weil sie schon eingeschlafen waren.
Nur JoJo war zu Mottes großer Überraschung und zur Freude von Lord Siegwart ganz bei der Sache. Als er an der Reihe war, gelobte er mit fester Stimme, „zwei Wochen lang keine Erzeugnisse der Fastfoodindustrie“ zu sich zu nehmen. Wie immer, wenn JoJo feierlich zumute war, wurde er auch umständlich. Natürlich konnte er es auch nicht lassen, sein Gelöbnis mit den Worten „Ich danke Ihnen, Gentlemen!“ zu beenden.
Nun saß er vor Mamas Sellerie-Eintopf, als ob er nie etwas anderes gegessen hätte. Dazu schlürfte er genüsslich ungesüßten Holunderbeersaft. Entweder es schmeckte ihm wirklich oder er war ein genialer Schauspieler.
Das Gespräch bei Tisch wurde mal wieder von Ute beherrscht. Es ging um ihren Geburtstag, genauer gesagt, um ihre Geburtstagswünsche. Dass es bis zu dem freudigen Ereignis noch acht Monate hin war, störte sie nicht im Geringsten. Geburtstagsgeschenke waren nun mal schon immer ihr Lieblingsthema gewesen. Ganz nach ihrem Motto „mein Thema ist dein Thema“ überlegte sie munter hin und her, ob sie sich das „supergeile“ D&C-Top lieber in Pink oder in Malve wünschen sollte. Während Mama ernsthaft darauf einging (oder zumindest so tat), kam von Papa nur die Bemerkung „Hauptsache wasserdicht“. Dass der Beitrag wie so oft in keinerlei Zusammenhang mit dem aktuellen Thema stand, nahm ihm niemand übel. Er war eben wie immer irgendwo in seinen Gedanken, und es war seine Art zu signalisieren, dass er dem Gespräch durchaus zu folgen versuchte.
Utes Monolog war gerade zum nächsten ihrer dringenden Probleme übergegangen, das mit einem der Typen auf ihren Bravo-Postern zu tun hatte, als Motte das wohlbekannte Vibrieren in seiner Hosentasche spürte. Das Handy, ausgerechnet jetzt, wo er nicht die geringste Chance hatte, ranzugehen. Während er noch überlegte, sprang JoJo neben ihm auf wie ein Flummi, aller Augen ruhten auf ihm. Offensichtlich hatte er dasselbe Problem in seiner Hosentasche, woraus Motte schloss, dass es sich um einen Rundruf handeln musste. MM? Simon?
JoJo wusste offenbar, dass Handys im Hause Blohm verpönt waren. Er legte einen betretenen Gesichtsausdruck an den Tag, trat von einem Bein auf das andere, räusperte sich und hüstelte: „Ladies und Gentlemen, ich weiß, es ist der denkbar unglücklichste Zeitpunkt, aber ... ähm ... es ist mir sehr unangenehm, aber ... ähm ... die Natur ruft“, und schon war er, so elegant es seine Körperfülle erlaubte, durch die Tür gehuscht.
„Die Natur ruft“, äffte ihn Ute nach. „Kann er nicht einfach sagen, dass er aufs Klo muss?“ Sie verdrehte die Augen. „Wenn Jungs in die Pubertät kommen ...“
„Pubertät von lateinisch pubertas, Geschlechtsreife ...“ Papa fühlte sich offenbar wieder zu einem Beitrag berufen. Er hatte diesen Tick, dass er ständig Fremdwörter erklären musste.
Als JoJo wieder auftauchte, war Motte sofort klar, dass etwas passiert sein musste, was wichtiger war als die Tofu-Würstchen, die er noch auf seinem Teller hatte.
Eine Viertelstunde später saßen sie alle auf dem Geländer am Parkplatz. Wie sie es geschafft hatten, sich von Mamas heiligem Mahl loszueisen, war mal wieder Spitzenklasse gewesen. JoJo hatte bei seiner Rückkehr von der Toilette verkündet, dass ihm auf dem Klo etwas eingefallen sei. („Ach, und ich dachte, du seist in der Natur gewesen“, musste Ute natürlich stänkern).
Er erzählte irgendetwas von einer Mahnwache vor MacDonalds, bei der gegen die Fastfoodindustrie demonstriert werden sollte. „Die findet jetzt doch jeden Tag statt. Ich hab das voll verpeilt, dass wir heute ... ähm ... Motte und ich ... die Schicht von ...“ Er schaute auf die Uhr, „... 19.25 bis 20.25 Uhr übernommen haben. So leid es mir tut, aber wir müssen sofort los!“
Mama war von der Sache mit der Mahnwache schlichtweg hingerissen und packte schnell noch ein paar Tofu-Würstchen als Proviant ein. Ute hatte natürlich sofort kapiert, was gespielt wurde, und verlauten lassen, dass sie sich selbstverständlich auch an der Mahnwache beteiligen würde. Mama fand das wunderbar. Motte konnte sie kaum mehr davon abhalten, selber mitzukommen.
„Jetzt sag schon!“ JoJo konnte sich vor Ungeduld kaum auf dem Geländer halten.
„Es gibt was Neues von der Polizei”, sagte MM. “Tati hat es mir gesteckt ... Ermittlungsgeheimnis, ihr habt das also alles nicht gehört. Der Hausmeister der Uni hat im Gebüsch einen Zettel gefunden, genau da, wo der Lieferwagen gestanden hat, als sie Tatis Institut ausgeräumt haben.“
„Warum sie den jetzt erst entdeckt haben, ist mir ja ein Rätsel“, schimpfte JoJo. „Echte Profis kämmen alles sofort systematisch durch ...“
„Ist ja gut, JoJo“, unterbrach ihn MM. „Die Polizei meint, es könne sich um einen Einkaufszettel handeln, der den Einbrechern vielleicht aus der Tasche gefallen ist.“
„Und was steht da drauf?“, fragte Motte.
„Nudeln, Marlboro und was ganz Merkwürdiges.“ Sie schaute auf ihre Handfläche und las ab: „Nutrimax forte für Baghira.“
„Nutrimax forte für Baghira? Was soll denn das?“, fragte JoJo. „Klingt nach