„Wer?“, fragte sie hilflos, aber was für eine Antwort sollte sie schon bekommen?
„Ach Tati ...“ Sie wollte irgendetwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein.
Aus der Küche kam Mamas Stimme: „Jetzt mach dir mal keinen Kopf, Robert, das zahlt doch alles die Versicherung!“ Sie kam mit einer Schale Kekse. „Wir sind übrigens heute Abend bei Professor Arnold eingeladen. Hast du daran gedacht? Sieh mal zu, dass du was Schickes anziehst, ja? Und lass um Himmels willen die ewige Fliege zu Hause!“
Wie schon Tausende Male vorher wurde MM von der Erkenntnis gestreift, dass ihre Eltern nicht vom selben Planeten kamen. Die Forschungsarbeiten, die für Tati das Leben bedeuteten, waren für Mama Spielereien. Mama wusste nicht einmal, dass er gerade den schnellsten Computer der Welt gebaut hatte – Giant Blue, den blauen Riesen.
Für sie zählten nur die Klamotten in ihrem Schickimicki-Laden. Mit dem Vorwurf „So läuft doch kein Professor rum!“ kam sie immer wieder mit Stapeln von Hemden, Anzügen und Krawatten an, für die er sich jedes Mal mit einem freundlichen Lächeln und einem gottergebenen Seufzer bedankte, ohne freilich irgendetwas an seiner Garderobe zu ändern, die seit Jahr und Tag aus einer ausgebeulten schwarzen Hose mit Hosenträgern, einem meist nicht mehr ganz blütenweißen Hemd und der unvermeidlichen lila Fliege bestand. Für solche Nebensächlichkeiten wie Klamotten fehlte ihm schlichtweg die Zeit. Für ihn gab es nur Giant Blue – und die Swinging Einsteins, seinen Jazzchor, der ausschließlich aus grauhaarigen oder glatzköpfigen Professoren bestand, die sich jeden Donnerstagabend zum Proben trafen.
„Ach, Tati ...“ Wieder kam MM nicht weiter. Tati ... irgendwie hieß er für sie schon seit den Zeiten so, als es für sie keinen größeren Spaß gab, als auf seinem dicken Bauch herumzuturnen und „Tati, Tati!“ zu brüllen, angeblich vor allem sonntags, wenn er gerade seinen Mittagsschlaf machen wollte. Den Namen hatte sie aus ihrem damaligen Lieblingsbuch, das „Tati, die Wildsau“ hieß.
Ihr Vater musste sich schon damals mit seinem Supercomputer beschäftigt haben, der zu der Zeit noch seinen deutschen Namen hatte, „Blauer Riese“. Ihr hatte es immer ein bisschen Angst gemacht, wenn von ihm die Rede war – ein blauer Riese war sicher sehr gefährlich.
Heute, wo sie auf die vierzehn zuging und sich selber mit Computern auskannte, hatte sie zwar keine Angst mehr vor dem Monsterrechner, aber er flößte ihr immer noch Respekt ein. Giant Blue war fast tausendmal schneller als alle bisherigen Superrechner. Sein Geheimnis bestand in den Chips, die ihn antrieben. Was genau das Besondere an ihnen war, hatte MM noch nicht in allen Einzelheiten verstanden, offenbar hatte es aber etwas mit einem Material zu tun, das Tati entdeckt hatte und „XXI“ nannte. Das Wunderbare an diesem XXI war, dass es Strom ganz ohne Widerstand leiten konnte, wie ein Metall, das auf den absoluten Nullpunkt heruntergekühlt wurde. Im Gegensatz zu allen bisherigen Superrechnern kam Giant Blue deshalb ohne die sonst notwendigen tonnenschweren Apparate aus, die die Chips auf so extreme Tieftemperaturen brachten.
Seit vorletzter Woche war endgültig klar, dass die XXI-Chips in Giant Blue wirklich einwandfrei funktionierten. Sie erinnerte sich noch, wie Tati nach dem ersten gelungenen Testlauf abends nach Hause gekommen war und erst einmal einen Freudentanz aufgeführt hatte. Er streckte die Arme in die Höhe, stellte sich auf die Zehenspitzen und bewegte die Hüften und den Bauch zu irgendeiner Musik in seinem Kopf, erst langsam, dann immer schneller und schneller. An diesem Abend konnte er kaum damit aufhören, obwohl Mama den Kopf schüttelte, wie immer, wenn er diesen Tanz aufführte, den er als Kind von „Babu“, seinem geliebten griechischen Opa, gelernt hatte. Nach dem Abendessen holte er eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. „Das muss begossen werden!“, strahlte er und ließ den Korken so heftig knallen, dass die halbe Flasche auf das Tischtuch schäumte. Beim Einschenken ging auch noch mal ordentlich was daneben, und was dann noch übrig war, schwappte beim Anstoßen über sein Hemd – was ihn aber genauso wenig störte wie die missbilligenden Blicke seiner Frau. Auch ohne Sekt war er einfach glücklich, und MM mit ihm.
Und jetzt saß er wie ein Häuflein Elend in seinem Sessel. MM merkte, dass er mit den Tränen kämpfte.
„Sie wussten genau, wo was zu finden ist“, sagte er, „und wie man die Alarmanlage ausschaltet.“ Tatis Bauch hob und senkte sich. „Die Schlösser sind nicht aufgebrochen worden, auch die Fenster nicht. Typisch Vollprofis, sagt die Polizei. Oder sie haben einen Helfershelfer unter meinen Mitarbeitern. Niko haben sie gleich zum Verhör auf die Wache bestellt. Er ist neben mir der Einzige, der einen Schlüssel hat. Ich habe ihnen gesagt, dass ich für Niko die Hand ins Feuer lege. Sie verhören ihn natürlich trotzdem.“
Ausgerechnet Niko! Wie konnte einer auf die Idee kommen, jemandem wie Niko eine solche Gemeinheit zuzutrauen! Niko, der immer so hilfsbereit und zuverlässig war. Seit MM denken konnte, hatte er für Tati gearbeitet – und eigentlich war er sogar ihre erste Liebe gewesen. Schon als Erstklässlerin hatte sie in seiner Anwesenheit Herzklopfen bekommen, wenn sie Tati im Institut besuchte. Für sie sah Niko genauso aus wie der Winnetou aus dem Film, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte: groß, schlank, braun gebrannt, die langen dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Und wie Winnetou hatte auch er etwas Geheimnisvolles an sich. Er redete mit einer ruhigen tiefen Stimme und rollte dabei das „R“ auf eine seltsame Art. Früher meinte sie immer, er würde das mit Absicht machen und bewunderte ihn umso mehr dafür. Inzwischen wusste sie von Tati, dass dieses „R“ daher kam, dass er eine andere Muttersprache hatte und erst als Zwölfjähriger nach Deutschland gekommen war, woher, wusste sie nicht mehr. Geheimnisvoll war auch die Narbe, die seine linke Augenbraue spaltete. Sie hatte ihn nie danach gefragt, aber als sie noch klein war, stand für sie fest, dass sie von der Büffeljagd stammen musste.
Als sie dann mit acht anfing, sich für Computer zu interessieren, brachte ihr Niko geduldig die ersten Schritte bei. Er konnte wunderbar erklären – ganz im Gegensatz zu Tati, der zwar durchaus willig war, aber sobald es um Computer ging, nur noch ein unverständliches Kauderwelsch hervorbrachte. Er redete dann von Teraflops, Booleschen Operatoren und artifizieller Akzeleration, als ob man das heute alles schon im Kindergarten lernen würde. Niko dagegen konnte ihr auch die kompliziertesten Sachen so erklären, dass sie sie kapierte. Unter seiner Anleitung durfte sie manchmal an ausgedienten Computern herumbasteln. Mit der Zeit hatte sie sich so viel Wissen angeeignet, dass sie vor einem Jahr ihren eigenen Computer zusammengebaut hatte, den sie in Anlehnung an Giant Blue „Quick Blue“ taufte. Quick Blue konnte natürlich nicht im Entferntesten mit Tatis Superrechner mithalten, aber er war trotzdem immer noch schneller als alles, was man in einem normalen Computerladen kaufen konnte. Tati hatte ihr Chips und Prozessoren besorgt, die noch gar nicht auf dem Markt waren.
„Kein Verbrechen ohne Motiv, Gentlemen!“ JoJos Stimme holte sie wieder zurück auf den Parkplatz. „Wenn man weiß, was die Täter antreibt, ergibt sich der Rest von selber.“
„Vielleicht geht es denen ja bloß ums Geld? Und sie verkaufen die Sachen irgendwo auf dem Schwarzmarkt weiter?“, sagte Motte. Er saß wie immer leicht zusammengekauert da und hatte seinen Strubbelkopf auf die Hände gestützt.
„Ich glaub nicht, dass sich das verkaufen lässt“, sagte MM. „Giant Blue sieht von außen aus wie ein kaputter Kühlschrank, voller Kabel und Chips und Platinen.“ Ganz abgesehen davon waren immer noch überall die blauen Blümchen drauf, mit denen sie ihn als kleines Kind „verziert“ hatte.
„Oder Wissenschaftsspionage“, sagte Motte, „vielleicht gibt es ja irgendwelche anderen Forscher, die auch an einem Superrechner arbeiten und unbedingt die Ersten sein wollen? Oder irgendwelche Firmen? Stellt euch vor, ein Rechner, der tausendmal schneller ist als alle anderen, was sich da für ein Schweinegeld mit machen lässt!“
JoJo räusperte sich, womit klar war, dass er dringend einen Geistesblitz loswerden musste. „Die Mafia“, sagte er ernst. Mehr Worte schien er nicht für nötig zu halten. Aber der Griff an die Brille zeigte, dass es sich um eine endgültige Antwort handelte.
MM konnte sich nicht recht vorstellen, was die Mafia mit einem Supercomputer anfangen sollte. Unter Mafia stellte sie sich finstere