Natürlich wusste Motte, wem sie „die hellsten Köpfe Großbritanniens“ zu verdanken hatten: Sir Leslie Hamilton, Inspektor seiner Majestät der Queen, der vor zwei Monaten in Form von 20 DVDs in JoJos Leben getreten war.
JoJo selber behauptete, er hätte die englische Krimiserie auf dem Sankt-Ägidien-Flohmarkt aufgetrieben – was Motte aber für eher unwahrscheinlich hielt, und das nicht nur, weil es sich dabei um den jährlichen Flohmarkt des städtischen Altenheims handelte. Dichtung und Wahrheit waren bei JoJo nicht immer ganz deckungsgleich. Motte vermutete eher, dass die Filme zur Hinterlassenschaft seines Vaters gehörten, der vor über fünf Jahren mit einer anderen Frau nach Hamburg gezogen war. JoJo sprach nie davon, aber Motte wusste, wie sehr es ihm zu schaffen machte, dass sein Vater ihn seither nicht ein einziges Mal besucht hatte. Vielleicht war es ja seine Art, mit der Trennung umzugehen, dass er jetzt die Lieblingsfilme seines Vaters hervorholte.
Seine auffälligsten Spuren hatte der Inspektor auf JoJos Kopf hinterlassen. JoJo hatte die Schottenmütze irgendwo im Internet aufgetrieben. Er war wohl auch schon an einem Trenchcoat dran gewesen, dem anderen Markenzeichen des Inspektors, der aber in seiner Größe einfach nicht zu kriegen war. So war er also in seinem Kleidungsstil notgedrungen seiner bisherigen Mischung treu geblieben, die dem Motto folgte: Wozu gibt es Farben, wenn man sie nicht trägt? Ob sie zueinander passten, war eins der Probleme, mit denen sich JoJo ganz offensichtlich nicht belastete. Heute hatte er wieder seine geliebten gelben Bowlingschuhe zusammen mit seiner hellblau metallic glänzenden Hose an. Die lila gefärbten Haare passten dazu wie Senf aufs Marmeladenbrot.
JoJos Umgangsformen hatte der Inspektor jedenfalls von Grund auf umgekrempelt. Er warf jetzt mit englischen Adelstiteln nur noch so um sich. Den Deutschlehrer redete er neuerdings mit „Lord Siegwart“ an, den Mathelehrer Freudenthaler mit „Duke“. Selbst das Fußvolk, wie etwa Busfahrer, Verkäuferinnen oder ganz normale Passanten, wurden nur noch mit „Sir“ oder „Lady“ tituliert. Nachmittags lud er jetzt gern zur „Tea time“ ein, bei der er dann aber mangels Tee den berühmt-berüchtigten „Matsch“ servierte, sein Leib- und Magengetränk. Dabei handelte es sich um eine süße Eispampe, die aus einer Maschine in seinem Zimmer kam. Es gab sie in Knallrot, Lila, Giftgrün und Grellgelb.
Nachdem er die Begrüßungszeremonie zu einem glücklichen Ende gebracht hatte, kam JoJo zu Tagesordnungspunkt Nummer eins, dem „aktuellen Stand der Ermittlungen“, der schnell abgehakt war. Wie MM von ihrem Vater erfahren hatte, tappte die Polizei noch vollkommen im Dunkeln.
Tagesordnungspunkt Nummer zwei lautete „Observierungsnotwendigkeit von Sir Niko“, womit JoJo meinte, dass sie Niko genauer unter die Lupe nehmen sollten. Motte wusste, dass es vollkommen aussichtslos war, JoJo seine geschraubte Sprache abzugewöhnen. Wenn es um Ermittlungen ging, rutschte er unweigerlich und unbeirrbar in diese hochoffizielle Bürokratensprache. Aus einem einfachen Treffen wurde dann eine „strategische Lagebesprechung“ und aus einem Handy ein „elektronisches Kommunikationsmittel“. Sie ließen ihm seinen Spaß.
„Niko ist der netteste Mensch der Welt“, protestierte MM, „es ist doch völlig abwegig, ihn zu verdächtigen!“
JoJo ließ sich nicht abbringen „Vielleicht hat er sich das Vertrauen deines Vaters ja nur erschlichen, um umso unauffälliger seinen Machenschaften nachzugehen? Wir müssen jeder Spur folgen. So machen das die Profis.“
JoJo mit seinen Profis. Aber vielleicht hatte er ja recht, ging es Motte durch den Kopf. Immerhin hatte Niko ja auch schon den Verdacht der Polizei erregt.
„Dann jagt ihr mal einen Unschuldigen“, sagte MM scharf. „Mir ist meine Zeit dafür zu schade!“
Motte war froh, dass sie trotzdem sitzen blieb.
Unbeirrt rief JoJo Tagesordnungspunkt Nummer drei auf – „Möglichkeit weiterer Einbrüche.“
Weitere Einbrüche? Was sich JoJo jetzt wohl wieder ausgedacht hatte?
JoJo machte es mal wieder spannend. Er putzte erst einmal ausgiebig seine Brille, bevor er weiterredete. „Gentlemen, ich habe ins Wasser geschaut.“
JoJo hatte offenbar mit den Worten seines Londoner Helden gesprochen, der sich zur Lösung besonders kniffliger Fälle gerne ans Geländer der Tower Bridge stellte, sein Pfeifchen rauchte und seinen Gedanken freien Lauf ließ, während er auf die Themse schaute. Wie die anderen auch, hatte Motte sämtliche zwanzig Hamilton-DVDs schon mehrfach mehr oder weniger freiwillig angeschaut.
„Die Einbrecher werden wiederkommen.“ JoJo schaute sich um und schien die Fragezeichen auf den Gesichtern seiner Freunde sichtlich zu genießen. Nach einer längeren Kunstpause fuhr er fort: „Gentlemen, die Einbrecher haben zwar Giant Blue, aber sie haben nicht sein Geheimnis. Wenn es sich um die Mafia handelt – und davon bin ich überzeugt – geht es ihnen gar nicht so sehr um den Besitz von Giant Blue, sondern sie wollen selber solche Superrechner bauen. Und dazu brauchen sie die Baupläne. Und vor allem brauchen sie XXI. Im Grunde geht es denen um die Formel von XXI.“
Motte musste zugeben, dass an JoJos Überlegungen etwas dran war. Hätten die Diebe es nur auf Giant Blue abgesehen, warum hatten sie dann in Tatis Institut alles auf den Kopf gestellt? Warum sonst hatten sie versucht, den Tresor aufzubrechen, in dem die wichtigsten Sicherheitskopien, Quellcodes und Passwörter aufgehoben wurden – und sicher auch die Formel von XXI? Es war reiner Zufall gewesen, dass es ihnen nicht gelungen war, das Schloss aufzusprengen. Offenbar hatten sie sich bei der Wahl des Sprengstoffs vertan.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder zuschlagen, Gentlemen“, sagte JoJo. Wie er sich dabei die Hände rieb, ließ fast auf eine gewisse Vorfreude schließen.
„Tati hat mir erzählt, dass die Polizei auch schon darüber diskutiert hat“, sagte MM. „Sie glauben aber eher nicht, dass sie wiederkommen, die Gefahr, erwischt zu werden, sei zu groß. Trotzdem haben sie Tati geraten, die ganzen Unterlagen erst einmal woanders zu bunkern, an einem geheimen sicheren Ort.“
„Am besten ein Banktresor“, meinte JoJo fachmännisch.
Als Motte nach der Lagebesprechung nach Hause kam, ließ ihm Ute keine Ruhe, bis er ihr alles haarklein erzählt hatte. Am meisten interessierte sie natürlich, was ihr verehrter Saisai gesagt, getan und vor allem, was er angehabt hatte. „Seine ausgefransten Jeans? Wie sweeet!“ Motte konnte sich nicht erinnern, dass Simon jemals eine andere Hose getragen hatte. „Und den gelben Pulli?“ Er musste sie enttäuschen – er hatte irgendwas Braunes angehabt. „Ach, das Kapuzenshirt! Ist das nicht sweeet?“
Was konnte seine Schwester nerven! „Jetzt krieg dich mal wieder ein mit deiner Saisai-Macke!“
„Du hast eben keine Ahnung, was echte Liebe ist, unterentwickelt wie du bist!“, giftete sie zurück.
Als er sich endlich an die Hausaufgaben setzte, war es schon kurz vor sechs. Zum Glück hatten sie heute nichts in Mathe auf. Dafür umso mehr Horstmann-Schwachsinn – Englisch eben.
Horsti hatte sich was ganz Besonderes einfallen lassen. Jeder hatte von ihm irgendeine alte Nummer aus seiner Sammlung von Herald Tribune-Zeitungen bekommen und sollte sich daraus drei Artikel vorknöpfen („aber mindestens hundert Zeilen lang“) und zusammenfassen. In drei Sätzen, und auf Englisch selbstverständlich. Wahrscheinlich war der eigentliche Zweck der Aktion, dass er die alten Zeitungen nicht selbst zum Altpapier bringen musste.
Motte schlug die Zeitung auf und fing lustlos an zu blättern. Simon würde sein Geschreibsel am nächsten Morgen ohnehin aufpolieren, er musste sich also keinen abbrechen. Finanzkrise in Ungarn, Minenunglück in Kasachstan, Flugzeugabsturz in Mexiko. Er wollte gerade weiterblättern, als es ihn plötzlich durchfuhr wie bei einem Stromstoß.
Mafia on Track of Supercomputers
Sein Auge klebte an der Überschrift links unten auf der Seite. Die Mafia auf der Spur der Supercomputer. Handelte es sich etwa um den Einbruch bei MMs Vater? Hatte die Polizei nicht eine Nachrichtensperre verhängt, „aus