Vielleicht waren die beiden auch gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Das würde die Blässe des Mannes und die Begeisterung der Frau für einen Schmetterling erklären. Dirk van Kombast sah, wie der Mann die Frau an sich zog und ihr zuraunte: „So schön wie du!“
Heißblütig war er also, wie alle Südländer. Herr van Kombast fühlte sich in seiner Mafia-Theorie bestätigt und blickte vorsichtig über die Hecke.
„Aufwachen, Fledermäuschen. Wir sind daha!“, rief die Frau jetzt.
Fledermäuschen? Dirk van Kombast hörte es im Inneren des Lasters rumpeln.
„Mein Hut, Fumpfs. Du liegst auf meinem Hut!“, ertönte die Stimme eines Mädchens.
„Was? Wie? Mach doch nicht so ’nen Stress“, brummelte ein anderes gähnend, vermutlich das, das Fumpfs hieß.
„Aber wir sind da!“, antwortete das erste Mädchen und stieg aus.
Wieder war Dirk van Kombast sehr überrascht, ob angenehm konnte er diesmal aber nicht sagen. Denn dieses Mädchen kleidete sich sehr speziell, zu speziell für seinen Geschmack. Sie trug mehrere geblümte Röcke übereinander, viele bunte Ketten und Armbänder und einen großen Sonnenhut. Das Mädchen war kostümiert wie für ein Bühnenstück und verkündete dann auch theatralisch: „Ich liebe Deutschland! Daka, komm raus! Es ist voll super hier! Übelst schön.“
Daka? Fumpfs? Was waren denn das für absonderliche Namen?, fragte sich Dirk van Kombast. Süditalienisch klangen die eigentlich nicht.
Dann kletterte das Fumpfs-Daka-Mädchen aus dem Laster und hielt sich, nicht weniger dramatisch als das Mädchen mit dem Rock, die Hände vors Gesicht: „Uah! Aaah! Sonne!“
Sie war genauso blass wie der Mann und schien eine Anhängerin dieser schwarzen Gestalten zu sein, die sich nachts auf Friedhöfen Gedichte vorlasen. Mit düsterem Blick sah sie sich um. Auf ihrer schwarzen Lederjacke steckte ein Button mit einem Totenkopf, ihre roten Strumpfhosen waren zerrissen und darüber trug sie kurze, zerfranste Hosen. Am auffälligsten aber waren ihre Haare. Sie waren rabenschwarz und erinnerten Dirk van Kombast an den Seeigel, in den er bei seinem letzten Tauchurlaub auf den Malediven getreten war. Fumpfs-Daka weckte keine guten Erinnerungen in ihm. Mafia oder nicht, diese neuen Nachbarn waren alles andere als normal.
Der Meinung schien auch Poldi, der Dackel von Frau Hase, zu sein. Bis zur Ankunft der neuen Nachbarn hatte er stolz seine Pinkelpfütze bewundert und zufrieden an den Kartoffelwurstauflauf gedacht, den sein Frauchen heute für ihn kochen wollte. Doch jetzt lag ihm jeder Gedanke an Futter fern – alle seine struppigen Haare sträubten sich und er witterte, schnupperte und schnüffelte. Diese Gestalten aus dem rostigen Ungeheuer rochen nicht wie Menschen. Die Frau schon, wie die meisten Menschenfrauen duftete sie nach Vanillepuder und Apfelshampoo. Aber diese zwei Mädchen und der schwarze Mann rochen anders. Fast wie ein Knochen, der lange verbuddelt gewesen war. Irgendwie muffig, nach Erde, Asche und ganz entfernt nach rohem Fleisch. Rohes Fleisch war für einen Dackel normalerweise ein Grund zur Freude, nicht aber für so eine alte, erfahrene Spürnase wie Poldi. Poldi witterte Gefahr, tödliche Gefahr!
Aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz und flüchtete wild kläffend zu seinem Haus. Zum Glück öffnete sein Frauchen gleich die Tür. Poldi wusste zwar, dass sie nur gebrochen hundisch sprach, dennoch bellte er warnend in Richtung tödliche Gefahr und wieder zu ihr. Sie verstand ihn nicht, versprach aber ein Leckerli, und so zog Poldi den Schwanz ein und tapste hinter ihr her in seinen Flur. Er konnte nur hoffen, dass dieser Patschuli-Typ die Gefahr auch gewittert hatte und sich dem Problem im Lindenweg annahm. Er, Poldi, hatte für heute genug getan. Er musste sich um seine eigene Wurst kümmern.
Dirk van Kombast war weit davon entfernt, einfach in sein Haus zu gehen. Er wollte wissen, mit wem er es ab jetzt zu tun hatte. Notfalls würde er den ersten Schritt wagen und sich vorstellen. Hallo, ich bin Ihr Nachbar, oder so. Ganz normal tun und dann die richtigen Fragen stellen. Van Kombast schaute über seine Hecke. In diesem Moment entdeckte ihn der große Mann und kam mit ausladenden Schritten auf ihn zu. Fast schien es, als schwebte er auf ihn zu.
„Einen wunderschönen guten Tag, Herr …?“
„Äh, van Kombast. Dirk van Kombast“, antwortete Dirk van Kombast und wollte dem Mann gerade die Hand reichen, als ihm dieser mit der Faust auf die Stirn boxte. TOCK!
„Boi motra. Grüßi, Herr van Kombast.“ Der Mann lachte laut.
Aua, dachte Dirk van Kombast und dann: Boi motra? Das klang eigentlich nur entfernt italienisch. Vermutlich wieder dieser sizilianische Dialekt. Er konnte ja nicht ahnen, dass Boi motra vampwanisch war und „Guten Morgen“ hieß. Noch nicht.
„Wir sind Ihre neuen Nachbarn! Familie Tepes aus dem wunderschönen, dunkelschaurigen Transsilvanien!“, redete der Mann weiter.
Transsilvanien! Als hätte die Kopfnuss von Herrn Tepes in seinem Gehirn ein Licht angeknipst, fiel Dirk van Kombast plötzlich etwas auf: Auf dem Laster hatte noch ein Wort gestanden. Transsilvania! Und Frau Tepes hatte ihre Töchter „Fledermäuschen“ gerufen. Herr Tepes und diese Fumpfs-Daka waren blass und schwarz gekleidet. Das war keine Mafia-Familie, das waren … doch Dirk van Kombast hatte keine Zeit, weiter nachzudenken. Frau Tepes stöckelte mit einer Klobrille unter dem Arm heran, gefolgt von ihren beiden seltsamen Töchtern.
Frau Tepes lächelte entschuldigend, als sie sah, dass sich Herr van Kombast immer noch entgeistert die Stirn rieb: „Ja, ja, andere Länder, andere Sitten, nicht wahr? Elvira Tepes, angenehm! Auf gute Nachbarschaft!“ Sie nahm seine Hand und schüttelte sie etwas kräftiger, als es in Deutschland üblich war. Dann reichte sie Dirk van Kombast die Klobrille über den Zaun.
„Eine kleine Aufmerksamkeit für Sie, Herr van Kombast! Die habe ich selbst entworfen. Ich bin Designerin.“
„Die beste in ganz Transsilvanien!“, fügte Herr Tepes stolz hinzu, woraufhin Frau Tepes etwas rot im Gesicht wurde und ihren Mann verliebt anlächelte.
„Äh, bezaubernd. Danke!“ Dirk van Kombast nahm verdutzt die Klobrille entgegen. Der Deckel war über und über mit bunten Blumenblüten aus Filz beklebt. Merkwürdig, fand Dirk van Kombast.
„Ich möchte einen Laden eröffnen. Hier in Bindburg. Falls Sie was wissen …?“, fragte Elvira Tepes.
Noch bevor Herr van Kombast antworten konnte, geschah etwas: Eine Fliege summte vorbei und Fumpfs-Daka schnappte danach und steckte sie sich in den Mund. Zumindest war Dirk van Kombast so, als hätte sie das getan. Der Schlag auf den Kopf schien sein Sehvermögen geschwächt zu haben.
Schnell legte Elvira Tepes die Arme um ihre Töchter und sagte: „Ja, und das sind unsere zwei wunderbaren Töchter: Silvania und Dakaria.“
Silvania knickste höflich und blinzelte Dirk van Kombast zu, Fumpfs-Daka-Dakaria nickte nur.
Dirk van Kombast war verwirrt. Eben noch hatte er einen wichtigen Gedanken gehabt, einen Verdacht, einen furchtbaren Verdacht – doch jetzt war alles weg. Wegen einer Kopfnuss. Und noch bevor er irgendetwas sagen oder fragen konnte, hatte Familie Tepes sich umgedreht, um den Lieferwagen auszuladen.
Dirk van Kombast beschloss, sich erst mal auf die Lauer zu legen. Möglichst unauffällig verfolgte er hinter seiner Hecke das Geschehen. Ab und zu schnitt er einen überstehenden Grashalm kürzer.
Familie Tepes trug eine Kiste nach der anderen ins Haus. Zu sehen war nicht viel, zumindest nichts Verdächtiges. Van Kombast überlegte bereits, sich ein wenig auf seinem Sofa zu entspannen, als Herr Tepes etwas langes schwarzes aus dem Laster zog und locker auf der Schulter balancierte, als wäre es kein Doppelsarg, sondern ein … Moment. Dirk van Kombast überlief es eiskalt. Ein Sarg???
Doch gerade als er das Objekt näher betrachten wollte, winkte ihm Herr Tepes mit der freien Hand zu und Elvira Tepes sprang mit einer exotischen Topfpflanze vor den Sarg oder was immer das auch war. Elvira lächelte. Dirk van Kombast fröstelte. Diese Pflanze war nicht nur exotisch, sie war