»Meine Sachen sind bereits gepackt.«
»Um so besser, dann können wir gleich aufbrechen.«
Zehn Minuten später saß sie neben ihm im Auto. Es war ihr bitter schwer gefallen, von den Menschen Abschied zu nehmen, unter denen sie fünf Jahre weilte. Es war ein sorgloses Leben gewesen, das nun aufhörte. Was würde ihrer warten? Sie hatte Angst.
Und gewiß nicht ohne Grund. Denn als sie die kleine Wohnung betrat, fand sie darin eine Unordnung, vor der ihr grauste. Die Mutter lag schlampig auf einem Diwan, und kaum, daß sie der Tochter ansichtig wurde, jammerte sie in den höchsten Tönen:
»Mein Kind, was muß deine arme Mutter nur alles erdulden. Alles hat er mir genommen, der Schuft.«
Hilflos sah das verstörte Mädchen sich nach dem Vormund um, doch der war gegangen, nachdem er die Koffer abgestellt hatte.
Mit Grauen dacht Armgard jetzt an die drei darauf folgenden Jahre. Die Mutter, die an einer unheilbaren Blutkrankheit litt, siechte langsam dahin und machte der Tochter das Leben unsagbar schwer.
Am schwersten waren die gehässigen Worte zu ertragen, mit denen sie ihren Vater beschimpfte. Selbst als sie der Tochter mitteilte, daß er gestorben war, schrie sie gehässig.
»Endlich ist er tot, der Lump!«
»Woher weißt du das, Mama? Du standest doch mit deinem Vater in keiner Verbindung.«
»Aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich es. Hätte der Teufel bloß schon früher…«
»Mama!« schrie Armgard sie an. »Der Mann war dein Vater.«
Da fing die Frau an zu toben, und angewidert ging die Tochter hinaus. Wie sie bei dieser seelischen Belastung die schwere Prüfung als Laborantin bestehen konnte, mutete sie wie ein Wunder an.
Und gerade an dem Tag starb die Mutter und heute rief der Großvater nach seiner Enkelin Armgard von Hollgan. Ihr Großvater, der doch schon fast drei Jahre tot war. Was würde sie in dem Haus, wohin der Arzt sie beordert hatte, erwarten?
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo sie umsteigen mußte. Rasch zog sie den Mantel an, griff nach dem Gepäck und was sie draußen erwartete, war ein Schneesturm, und der Anschlußzug hatte Verspätung.
*
Fast eine Stunde mußten die frierenden, schimpfenden Passagiere warten, bis der Zug endlich einlief, der dann noch zweimal in den aufgewehten Schneeschanzen steckenblieb und ausgeschaufelt werden mußte, was die Reisenden immer mehr erboste. Man hatte ja schließlich die Reise unternommen, um im Verwandten- oder Freundeskreis fröhlich Silvester zu feiern. Es wurde gemurrt, geschimpft, gejammert, aber das nützte alles nichts, gegen höhere Gewalt kommt der Mensch nun einmal nicht an.
Armgard befand sich in einem Abteil, wo zwei junge Burschen und zwei ältere Paare die Flasche kreisen ließen. Armgard, die man aufforderte, mitzuhalten, trank zwei Schnäpse, für mehr dankte sie. Sie mußte klaren Kopf behalten, wer weiß, was ihr bevorstand.
Und das war ärger, als sie befürchtet hatte. Als sie den Zug verließ, kam sie in eine weiße Hölle hinein. Der Schneesturm tobte, und die Flocken waren so dicht, daß sie Armgard die Sicht nahmen; wie Schemen sah sie die Menschen an sich vorüberhuschen. Rasch warf sie das Cape über, machte die Kapuze fest und war so einigermaßen vor dem Naß geschützt.
Nun stand sie da, wie von Gott und aller Welt verlassen und das in der Silvesternacht. In den letzten drei Jahren waren ihr diese Stunden schon immer trostlos erschienen, aber da hatte sie wenigstens eine warme Stube gehabt. Jetzt waren ihr die Hände so steifgefroren, daß sie die Tasche nebst Koffer kaum halten konnte, und in den Füßen hatte sie kaum noch Gefühl.
Aber sie konnte doch hier nicht stehenbleiben. Mußte versuchen, zum Bahnhofsgebäude zu gelangen, das es ja schließlich auch auf dem kleinsten Bahnhof gab. Wenn sie sich nicht täuschte, schimmerte unweit ein Licht.
Mühsam taumelte sie darauf zu. Der Sturm warf sie fast um, der Schnee peitschte ihr ins Gesicht. Er mußte mit Hagel vermischt sein, sonst könnte er doch unmöglich so stechen wie spitze Nadeln. Die Wimpern waren verklebt, die Augen brannten.
Mein Gott, nahm denn dieser fürchterliche Weg gar kein Ende? Und dabei noch die Angst, in eine Falle getappt zu sein und bald Grausiges zu erleben.
Endlich stand sie vor dem Bahnhofsgebäude. In der oberen Etage brannte Licht, doch unten war alles dunkel, und die Tür, die wahrscheinlich zur Bahnhofshalle führte, war verschlossen. Verzweifelt polterte Armgard dagegen und ließ nicht früher nach, bis ein Bahnbeamter erschien.
»Sind Sie denn irrsinnig geworden!« schnauzte er, stutzte dann jedoch und fragte zögernd:
»Sind Sie vielleicht das Fräulein, das im Gylthaus erwartet wird?«
»Eben die bin ich.«
»Ach, du großer Gott, Sie hatte ich ja ganz vergessen! Kommen Sie bloß schnell rein, Fräuleinchen.«
Gleich darauf saß sie im warmen Amtszimmer. Als der Beamte merkte, wie durchgefroren sie war, hüllte er sie schuldbewußt in eine Decke und ging dann zum Fernsprecher, wählte eine Nummer und sprach gleich darauf:
»Ist Spierke da, ja? Sagen Sie ihm, daß der Zug angekommen ist, das Fräulein sitzt im Amtszimmer.«
Er legte auf und wandte sich Armgard zu.
»Oje«, sagte er zerknirscht. »Beinahe wäre es schiefgegangen. Zum fahrplanmäßigen Eintreffen des Zuges war nämlich jemand hier, um Sie im Schlitten abzuholen. Als die Verspätung gemeldet wurde, und man nicht sagen konnte, wie lange die währen würde, wollte der Mann nicht warten, wegen dem Pferd, wissen Sie, das war nämlich gepumpt. Im Gylthaus haben sie bloß ein Auto, und das ist nichts für tiefen Schnee, da kommt es nicht durch, das schafft nur ein Schlitten, den der Spierke besorgte.
Na ja, und mit so einem gepumpten Pferd muß man doppelt vorsichtig sein, das darf man im Schneesturm nicht wer weiß wie lange warten lassen. Also fuhr der Spierke zum Wirtshaus, um dort das Gefährt unterzustellen. Doch bevor er abfuhr, schärfte er mir ein, ein wachsames Auge auf Sie zu haben, Fräuleinchen. Sobald der Zug ankäme, sie in Empfang zu nehmen, Sie ins Warme zu führen und ihm sofort telefonisch die Ankunft zu melden, und das habe ich verschwitzt. Ist das sehr schlimm?«
»Jetzt nicht mehr«, beruhigte sie den Zerknirschten. »Jetzt sitze ich ja im Warmen. Vorher allerdings, da war es scheußlich. Der Schneesturm und dazu die Angst, wer weiß wie lange in der weißen Hölle herumirren zu müssen, aber das ist ja nun vorbei. So langsam beginne ich aufzutauen.«
»Wollen Sie einen Schnaps?« bot er eifrig an, sie lehnte ab.
»Danke, ich muß einen klaren Kopf behalten. Ob es lange dauern wird, bis der Schlitten hier ist?«
»Bestimmt nicht. Wie mir scheint, klingelt er schon, will schnell mal nachsehen.«
Weg war er, und als er gleich darauf zurückkehrte, griff er nach dem Koffer.
»Kommen Sie man, Fräuleinchen, er ist da. Verflixt noch mal, bin ich aber froh!«
Als Armgard an den Schlitten trat, stand da ein Mann, der bis über beide Ohren im Pelz steckte und in strammer Haltung meldete:
»Ich bin der Gartner-Chauffeur aus dem Hause von der Gylt, bin beauftragt, das Fräulein von Hollgan abzuholen.«
»Das bin ich, besten Dank.«
Ehe sie sich so recht versah, saß sie im Schlitten, in Pelzwerk vermummt bis zur Nasenspitze. Nachdem der Kutscher das Gepäck verstaut und sich neben Armgard gesetzt hatte, gelang es dem Bahnhofsvorsteher gerade noch, die Pelzdecke festzustopfen, da preschte das ungeduldige Pferd auch schon los. Es zog gewaltig zum warmen Stall. Kein Wunder bei dem Wetter. Wohl stürmte es nicht mehr so arg, aber es schneite immer noch, und es wehte ein eisiger Wind.
Daher war auch auf der Straße des Dorfes, das der Schlitten durchfuhr, nur wenig Betrieb, man ließ es sich in den warmen Stuben wohl sein. Es gab kaum