So, das genügte. Rock und Pullover, die sie trug, konnte sie anbehalten, die festen Schuhe auch.
Halt, das Regencape nicht vergessen, damit sie es, falls es regnen sollte, über den Mantel tun konnte. Da es griffbereit sein mußte, tat sie es nebst Schirm in die große Ledertasche, gleichfalls die Handtasche, der sie vorher einige Scheine entnahm und auf den Tisch legte. Daneben die Delikatessen, die sie besorgt hatte, um ins Neue Jahr hineinzuschlemmen. Jetzt konnte sich das gute Muttchen Ricks daran laben, die aß so was auch gern.
So, jetzt war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie zog gerade den Mantel an, als die Wirtin mit einem Tablett eintrat.
»Ich habe Kaffee gekocht und einige Schnitten als Proviant eingepackt«, erklärte sie eifrig. »Eine Tasse Kaffee müssen Sie unbedingt noch trinken, der Rest kommt in die Thermosflasche.«
»Lieb von Ihnen«, streichelte Armgard die pralle Wange der fürsorglichen Frau. »Ich hätte daran bestimmt nicht gedacht.«
Während des Ankleidens trank sie den heißen, starken Kaffee, der sie erquickte. Indes tat Frau Ricks den Beutel mit Schnitten und die Thermosflasche in die große Tasche und zog den Reißverschluß zu.
»Immer geschlossen halten«, mahnte sie. »Sonst klaut Ihnen ein Spitzbube im Gedränge die Handtasche. Haben Sie überhaupt genügend Geld für die Reise?«
»Ich bin so reichlich damit versehen, daß ich sogar noch die Miete für Januar bezahlen kann«, sie zeigte auf die Scheine. »Ich weiß ja nicht, wann ich zurückkomme.«
»Aber doch noch vor dem ersten Februar?«
»Das ganz bestimmt. Diese Delikatessen hier, die für den Abend bestimmt waren, lassen Sie sich gut schmecken. Und nun muß ich machen, daß ich wegkomme.«
»Wollen Sie denn zu Fuß zur Bahn?«
»Allerdings.«
»Vielleicht versuchen wir eine Taxe aufzutreiben.«
»Bei dem Verkehr heute aussichtslos«, winkte das Mädchen ab. »Außerdem würde sich das für die kurze Strecke gar nicht lohnen.«
Sie griff nach dem Gepäck und drückte der gerührten Frau einen Kuß auf die Wange.
»Auf Wiedersehen, liebe Frau Ricks. Haben Sie Dank für alles Liebe.«
»Das ist doch gern geschehen, Sie gutes Kind. Kommen Sie recht bald wieder. Werden Sie anrufen, wenn Sie am Ziel sind?«
»Ob es heute sein wird, kann ich nicht versprechen, aber für morgen ganz bestimmt. Kommen Sie gut ins Neue Jahr!«
»Sie auch, Kindchen, Sie auch!« rief Mutter Ricks der Enteilenden nach.
»Gott schütze Sie!«
*
In zehn Minuten hatte Armgard von Hollgan den Bahnhof erreicht. Ihr wurde schwül, als sie die Menschen sah, die vor den Fahrkartenschaltern schon Schlange standen. Doch die Abfertigung erfolgte rasch, und so bekam sie den Zug gerade noch mit knapper Not. Denn kaum, daß sie eingestiegen war, setzte er sich auch schon in Bewegung.
Da ein Fensterplatz frei war, nahm sie ihn ein, drückte sich in die Ecke und gab sich den Gedanken hin, die in die Vergangenheit schweiften.
Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie als wohlbehütetes Kind fröhlich dahingelebt, weil sie alles hatte, was ein Kinderherz nur begehren kann. Vor allen Dingen einen Vater, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Mehr als an der Mutter, obgleich diese das reizende Töchterchen über Gebühr verwöhnte, wie auch die Großmutter es tat.
Was Armgard über die Familie mütterlicherseits wußte, hatte ihr der Vater erzählt, dabei jedoch die Wahrheit umgangen.
Und diese war, daß es Frau von der Gylt gar nicht paßte, als ihre Tochter Freda einen Generalstabsoffizier heiratete, der wohl blendend aussah und aus bester Familie stammte, aber mit Gütern nicht gesegnet war. Doch da der verhätschelte Liebling den Mann durchaus haben wollte, gab die Mutter nach, und der Vater wurde erst gar nicht gefragt. Er war auch selten zu Hause, da er für das Handelshaus die notwendigen Reisen unternehmen mußte.
Das Mädchen, das er mit dreiundzwanzig Jahren heiratete, hatte ihm der Vater ausgesucht. Es hatte einen vornehmen Namen, hatte viel Geld und paßte daher in die vornehme Senatorenfamilie von der Gylt vortrefflich hinein.
Die Ehe war auch ganz glücklich, da der Ehemann sich in den ersten Jahren seiner Frau viel widmen konnte. Den Dr. jur. hatte er in der Tasche; und im Handelshaus war er eigentlich nur Staffage, da der Vater und sein ältester Sohn den Betrieb straff am Zügel hielten.
Allein das änderte sich; als der alte Senator starb und die beiden Söhne gleichwertige Besitzer des Handelshauses wurden. Mit dem Moment hatten sie auch die gleichen Pflichten.
So kamen die Brüder denn überein, daß der ältere Bruder Jonathan dem Handelshaus vorstehen sollte, während der jüngere Frederik den Kundendienst übernahm. Das brachte wohl Geld ein, aber auch eine Zerrüttung der Ehe.
Denn Frau Adele, die sehr eifersüchtig war, tobte jedesmal, sofern der Gatte eine Reise antreten mußte, und machte ihm Szenen, wenn er zurückkehrte. Dichtete ihm ein Dutzend Geliebte an, war überhaupt so zänkisch, daß der Mann mehr und mehr seinem Heim entfloh.
Und in dieser trostlosen Atmosphäre wuchs die einzige Tochter Freda auf, die nach einjähriger Ehe geboren wurde. In den ersten Jahren, als der Vater viel zu Hause war, hing sie an ihm. Doch als er die Geschäftsreisen antreten mußte, unterlag sie mehr und mehr den gehässigen Einflüsterungen ihrer Mutter und wich dem Vater scheu aus, wenn er nach Hause kam.
Freda wurde überhaupt ganz das Geschöpf ihrer Mutter, wurde genauso vergnügungssüchtig wie sie. Bis sie mit neunzehn Jahren den Oberleutnant Gerwin von Hollgan kennenlernte und sich Hals über Kopf in ihn verliebte. Und da sie hübsch war, fand auch der Mann so großes Gefallen an ihr, daß er sich um sie bewarb und sie auch bekam. Dafür sorgte schon Freda, die daran gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen. Sie liebte den Mann und mußte ihn haben, basta!
Lange würde diese Ehe bestimmt nicht vorhalten, sagten die Menschen, die das wetterwendische Persönchen kannten. Bald würde es der Ehe überdrüssig sein. Aber die Ehe blieb bestehen, weil der Ehemann seine Frau nicht daran hinderte, den gesellschaftlichen Trubel nach wie vor mitzumachen. Er selbst konnte ihr allerdings nicht dazu verhelfen, da er auf sein Gehalt angewiesen war. Doch da Freda eine reiche Mitgift erhielt, auf die der Gatte keinen Anspruch erhob, hatte sie Geld genug, um sich leisten zu können, was das Herz begehrte. Dazu hatte sie einen lieben, stets nachsichtigen Mann und ein herziges Töchterchen, somit hatte sie allen Grund, zufrieden zu sein.
Bis dann das Unglück geschah und aus dem schneidigen kerngesunden Mann einen siechen machte, als er das durchgehende Pferd eines Soldaten aufhielt. Dem Mann geschah nichts, doch sein Retter wurde arg zugerichtet. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis man ihn aus dem Krankenhaus entlassen konnte, und es verging kein Tag, wo seine damals zehnjährige Tochter ihn nicht besuchte. Seine Frau erschien in der ersten Zeit öfter, doch dann wurden die Besuche seltener und blieben zuletzt ganz aus.
»Das arme Kind kann die Krankenhausluft nicht vertragen«, erklärte die Schwiegermutter dem Kranken. »Es wird ihr immer übel, oft muß sie sich sogar erbrechen, und das hält ihr zarter Körper nicht aus. Außerdem kehrst du ja bald nach Haus zurück.«
Wohl tat er das, aber nicht völlig geheilt, wie man angenommen hatte. Ein Hüftleiden blieb zurück, so daß er sich nur mühsam am Stock vorwärtsbewegen konnte.
Und nun war es wiederum der Anblick des Krüppels, den die ach so zarte und sensible Frau nicht ertrug. Doch das verbitterte den Mann nicht. Er hatte ja die Tochter, die nicht nur äußerlich sein Ebenbild war, sondern auch seinen vornehmen Charakter und seinen Frohsinn geerbt hatte. Schule, sowie die Schularbeiten, die sie erledigte, wenn der Vater seinen Mittagsschlaf hielt, das mußte ja sein, aber sonst war sie nicht von der Seite des Paps zu kriegen.
Am liebsten hockte sie auf einem Stühlchen zu seinen Füßen, lauschte seinen Erzählungen und stellte Fragen,