Erbärmlich war ihr zumute. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in einen Abgrund gestürzt, an dem sie mit verbundenen Augen entlanggetapst war.
Und nun, was nun? Würde sie die Kraft haben, sich aufzuraffen oder würde sie auf der Strecke liegenbleiben wie ein waidwundes Tier?
Es starb schon manches arme Herz, da man sein Lieben ihm entriß, kamen ihr die Worte Freiligraths in den Sinn. Sterben, nein, das würde ihr Herz wohl nicht, um dann so schwer wie ein Stein in der Brust zu liegen, aber es würde durch die Kelter des Schmerzes gepreßt werden und das tut weh.
Da saß nun so ein armes Menschenkind, zerquälte sich Herz und Hirn, weil wieder einmal der Schein getrogen hatte. Gewiß, sehen geht ja wohl vor sagen, und was Armgard gesehen hatte, war der Anblick zweier Liebender, die sich in der Konditorei ein Stelldichein geben.
Wären Armgards Gedanken logisch gewesen, hätte sie sich sagen müssen, daß sich ein paar zu einem Schmusestündchen nicht wie auf dem Präsentierteller ins Fenster setzt, sondern möglichst dunkle Winkel aufsucht. Aber in solcher Verfassung, in der Armgard sich befand, ist jedes logische Denken ausgeschaltet, da glaubt man, was man sieht.
Womit Jella auch gerechnet hatte. O ja, diese gerissene Mondäne wußte, wie man so unerfahrene Gänschen täuschen konnte, so eine Rivalin ist leicht aus dem Weg geräumt. Und diese mußte weg, sonst kam sie bei dem Mann, in den sie toll verliebt war, nicht zum Ziel.
Als sie nun Armgard auf die Konditorei zukommen sah, reagierte sie blitzschnell, setzte sich in Pose als liebendes Weib und siehe da, es klappte. Mit einem hämischen Grinsen sah sie dem flüchtenden Mädchen nach und nahm es gelassen hin, daß der überrumpelte Mann sie anherrschte:
»Bist du denn ganz von Gott verlassen! Was sollen die Menschen von diesem blöden Getue denken! Du wirst ja immer lästiger!«
Er legte ein Geldstück für die Zeche auf den Tisch und ging, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Das machte ihr aber gar nichts aus. Sie hatte ihre Rivalin in die Flucht geschlagen, dafür konnte sie schon einen Rüffel einstecken.
Wie gut, daß sie Appetit auf Eis gehabt hatte und in die Konditorei gegangen war, wo sie Folko vorfand. Daß sie sich an seinen Tisch setzte, war selbstverständlich, und daß sie eine so nette Intrige in Szene setzen konnte, paßte ganz wunderbar in ihren Plan.
Als sie die Konditorei verließ, bemerkte sie in einem der parkenden Wagen ihr Opfer, und schon nahm sie die Gelegenheit wahr. Lachend ging sie auf das Auto zu und sprach durch das geöffnete Fenster:
»Guten Tag, Fräulein von Hollgan. Wie nett, Sie mal zu treffen. Sicher haben Sie mich in der Konditorei mit Folko gesehen. Er muß noch rasch etwas erledigen, dann wollen wir erst ein ausgiebiges Seebad nehmen und dann ins Kurhaus gehen, wo heute Tanz ist.«
»Dann viel Vergnügen«, wünschte Armgard mit einer Gleichmütigkeit, über die sie selbst staunte. »Vielleicht gehe ich auch hin. Muß erst mal sehen, ob meine beiden Anstandswauwaus Zeit und Lust haben. Denn ohne Herrenbegleitung kann man ja nicht gut zu so einer Veranstaltung gehen, und Folko muß sich ja Ihnen widmen. Nochmals viel Spaß.«
Damit fuhr sie ab, und wütend starrte ihr die Zurückbleibende nach.
*
»Nun, welches Gift hast du denn da verspritzt?« ließ eine Stimme sie herumfahren. Sie stand Folko gegenüber, der sie mit dem bewußten Lächeln ansah, dem Gemisch von Ironie und Verachtung.
»Hast du mich etwa belauscht?« fauchte sie gereizt wie eine aufgescheuchte Katze.
»Leider kam ich zu spät. Was hast du Fräulein von Hollgan vorgelogen?«
»Erlaube mal…«
»Laß das Theater!« schnitt er ihr mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. »Mich kannst du nicht täuschen, dafür kenne ich dich zu gut. Was für Intrigen hast du gesponnen?«
»Frag doch diese hochnäsige…«
»Jella, ich warne dich!« peitschte seine Stimme dazwischen. Erschrocken fuhr sie zusammen und sah ihn unsicher an. Wenn in seinem harten Gesicht die Wangenmuskeln spielten und seine Augen den grünlichen Schimmer hatten, dann war er zornig. Von dem kalten Zorn, der vernichtender wirkt als ein aufbrausender.
»Herrgott, ja, sei doch nicht gleich so eklig«, schob sie die Unterlippe vor und warf dann einen Blick auf die Armbanduhr. »So spät schon? Da muß ich eilen, sonst verpasse ich meine Verabredung.«
Weg war sie, und er sah ihr nach mit verächtlichem Blick. Feige wie alle nichtswürdigen Kreaturen. Wenn er sie doch endlich abschütteln könnte, die ihn verfolgte wie ein lästiges Insekt.
Wenn er nur wüßte, was sie Armgard vorgelogen hatte und was diese wahrscheinlich glaubte. Denn sie war ja in solchen Dingen nicht erfahren wie die mit allen Wassern gewaschene Intrigantin. Kaum zu glauben, daß eine Jugendeselei einem ankleben konnte wie Pech.
Ärgerlich fuhr er herum, als sich von hinten zwei Hände auf seine Augen legten. Sollte Jella es etwa wagen?
Doch nein, es war Lutz, der ihn vergnügt angrinste.
»Kommst mir wie gerufen. Denn ich überlegte gerade, wie ich mit meinem Koffer nach Schloß Dünen gelangen könnte. Die Sommerferien haben nämlich begonnen. Nimmst du mich mit?«
»Ehrensache. Dort steht mein Wagen. Ich fahre dich zuerst nach Hause, du meldest dich bei deinen Verwandten ab…«
»Die sind nicht da, verreist. Diesmal aber auf Urlaub, den sie sich redlich verdient haben. Der Koffer ist gepackt, also braucht der Herr Graf nicht lange auf seinen Mitfahrer zu warten.«
Als sie auf Schloß Dünen zufuhren, fragte Folko:
»Hast du denn kein Verlangen, deine Ferien mal woanders zu verleben?«
»Nein. Wenn ich die Schule hinter mir habe und studiere, werde ich lange genug dem allen fernbleiben müssen, woran mein Herz hängt. Und wo noch Christine nach Schloß Dünen kommt, Armgard, ihr Großvater, der famose Naudin und die Frökens dort ein und aus gehen, das gibt doch ein Leben, wie es schöner gar nicht sein kann. Ist Armgard im Reiten schon fit?«
»Sie ist jedenfalls so weit, daß sie mich auf den Inspektionsritten überallhin begleiten kann.«
»Na du, dann kann sie schon viel. Denn bei den Ritten geht es, wie ich aus Erfahrung weiß, über Stock und Stein.«
Mittlerweile hatten sie Schloß Dünen erreicht, wo der Feriengast mit offenen Armen empfangen wurde. Als ob der Sohn des Hauses nach Hause kommt, so war es. Er rumorte in seinem Zimmer herum, pfiff vergnügt vor sich hin und sorgte beim Abendessen für lustige Unterhaltung. Danach rief er im Gylthaus an und erfuhr zu seiner Bestürzung vom Hausherrn, daß Armgard sich beim Baden einen Glasscherben in den Fuß getreten hatte.
»Ist’s schlimm?« forschte Lutz bang.
»Nein, schlimm ist es nicht. Die Wunde ist desinfiziert und verbunden, braucht also nur zu heilen, was ja seine Zeit dauert.«
»So kann Sie nicht reiten?«
»Ausgeschlossen.«
»Dann den schönsten Gruß. Morgen besuche ich die nun wirklich Ärmstegard. Danke für die schlechte Nachricht, Onkel Frederik.«
»Bist du aber höflich«, lachte er »Grüß alle bei euch schön.«
»Danke, wird bestellt.«
Nachdem Lutz berichtet hatte, sagte Folko:
»Aber ich habe Armgard doch heute in Seestadt gesehen. Gesprochen allerdings nicht, da sie mir sozusagen an der Nase vorbeifuhr.«
»Dann wird sie wohl hinterher das Bad genommen haben. Schade, daß sie vorerst zu Hause bleiben muß.«
Das fand Armgard gar nicht schade. Sie freute sich sogar über die kleine Verletzung. Da hatte sie doch einen Grund, dem Schloß und damit Folko fernzubleiben.