Horaces Erwiderung schien die Ängstlichkeit in Lady Janet eher zu mildern als zu erhöhen. Er hatte demnach nichts bemerkt, was sie nicht auch gesehen hätte.
»Sie sind ein närrischer Junge!« sagte sie, »der Grund ihres Benehmens doch ist deutlich genug zu erkennen. Grace ist längere Zeit hindurch kränklich gewesen. Der Arzt empfiehlt eine Luftveränderung, ich werde mit ihr fortgehen.«
»Da entspräche es doch wohl mehr dem Zwecke«, versetzte Horace, »wenn sie mit mir fortginge. Vielleicht entschließt sie sich dazu, wenn Sie ihr zureden. Verlange ich zu viel, wenn ich Sie bitte, Ihren Einfluss dahin geltend zu machen? Meine Mutter und Schwestern haben ihr bereits geschrieben, allein ohne jeden Erfolg. Erweisen Sie mir die größte aller Wohltaten – sprechen Sie noch heute mit ihr!« Er schwieg einen Augenblick; dann ergriff er Lady Janets Hand und drückte sie inständig. »Sie sind immer so gütig gegen mich gewesen«, sagte er weich.
Die alte Dame sah ihn an. Es war unbestreitbar, dass in Horace Holmcrofts Gesicht etwas Eigenes, Anziehendes lag, das eines Blickes wohl wert war. Manche Frau hätte ihn um seinen klaren Teint, seine schönen blauen Augen und den weichen, lichtgelben Ton seines Haares beneidet. Männer – namentlich solche, die im Beobachten von Physiognomien eine gewisse Übung besitzen – mochten in der Formation seiner Stirne und in der Linie seiner Oberlippe die untrüglichen Zeichen für eine Natur von mangelhafter moralischer Stärke finden – für einen Geist, der starren Vorurteilen leicht zugänglich war, und an ihnen selbst besseren Überzeugungen gegenüber hartnäckig festhielt. Für die Beobachtungsgabe einer Frau lagen diese abstrakten Mängel zu tief unter der Oberfläche, um von ihr erkannt zu werden. Im Allgemeinen bezauberte er das weibliche Geschlecht durch seine seltenen persönlichen Vorzüge und durch sein feines, rücksichtsvolles Benehmen. Lady Janet hatte ihn nicht nur um seiner eigenen Verdienste, sondern auch um der Erinnerungen willen liebgewonnen, die sich für sie an seine Person knüpften. Sein Vater war einst einer ihrer vielen Bewunderer gewesen. Die Umstände hatten sie jedoch getrennt. Ihre Ehe mit Lord Roy war kinderlos geblieben. In früheren Zeiten, wenn Horace als Knabe von der Schule zu ihr auf Ferien kam, war es ihr geheimer Lieblingsgedanke – zu unsinnig, um ihn irgend jemandem mitzuteilen – dass er eigentlich ihr Sohn hätte werden sollen, und es auch geworden wäre, wenn sie seinen Vater geheiratet hätte! Nachgiebig – wie eine Mutter – sah sie mit einem Lächeln, das ihr, so alt sie war, reizend stand, auf den jungen Mann, als er ihre Hand fasste und sie flehentlich bat, sich für ihn zu verwenden. »Muss ich wirklich mit Grace sprechen?« fragte sie mit einer Milde in Ton und Wesen, wie sie bei gewöhnlichen Anlässen der Herrin von Mablethorpe-House nicht eigen war. Horace sah, dass er seinen Zweck erreicht hatte. Er sprang auf; seine Augen wendeten sich eifrig nach der Richtung des Wintergartens; sein schönes Gesicht war strahlend vor Hoffnung. Lady Janet, in Gedanken nur mit der Erinnerung an seinen Vater beschäftigt, warf einen letzten verstohlenen Blick auf ihn – seufzte, als sie der entschwundenen Tage gedachte – und fasste sich.
»Gehen Sie in das Raucherzimmer«, sagte sie und schob ihn bei diesen Worten gegen die Tür. »Fort mit Ihnen und pflegen Sie das Lieblingslaster des neunzehnten Jahrhunderts.« Horace machte einen Versuch, seine Dankbarkeit auszudrücken. »Gehen Sie rauchen!« war alles, was sie sagte und schob ihn hinaus. Als Lady Janet allein war, ging sie im Zimmer auf und ab und überlegte die Sache ein wenig. Horaces Unmut war nicht ungerechtfertigt. Es gab wirklich keine Entschuldigung für die Verzögerung, über welche er sich beklagte. Ob nun das junge Mädchen einen besonderen Grund hatte, sich zu sträuben, oder ob sie sich in Ungewissheit verzehrte, weil sie sich über ihr Gefühl nicht klar war, gleichviel, in jedem Falle war es nötig, früher oder später über die ernste Angelegenheit der Heirat sich deutlich auszusprechen. Die Schwierigkeit lag nur darin, wie man den Gegenstand zuerst berühren sollte, ohne sie zu verletzen. »Ich verstehe die jungen Mädchen von heutzutage wahrhaftig nicht«, dachte Lady Janet. »Zu meiner Zeit war das anders. Hatte man da einen Menschen lieb, so war man auch jeden Augenblick bereit, ihn zu heiraten. Und es ist doch jetzt das Zeitalter des Fortschrittes! Da sollten sie noch schneller dazu bereit sein.«
Nachdem sie in ihrem Gedankengang zu diesem unvermeidlichen Schluss gelangt war, entschied sie, zu versuchen, was ihr Einfluss vermöchte und sich in der Wahl der hierzu geeigneten Mittel auf die Eingebung des Augenblickes zu verlassen. »Grace!« rief sie hinaus und näherte sich dabei der Tür, die in den Wintergarten führte. Die große, leichtbewegliche Gestalt in ihrem grauen Kleide wurde sichtbar und hob sich scharf von dem grünen Hintergrunde des Wintergartens ab.
»Haben Sie mich gerufen, Lady Janet?«
»Ja, ich möchte mit Ihnen sprechen; kommen Sie und setzen Sie sich da zu mir.«
Mit diesen Worten schritt Lady Janet zu dem Sofa und zog ihre Gesellschafterin neben sich auf dasselbe nieder.
2.
Es kommt der Mann
»Sie sehen heute recht bleich aus, mein Kind.«
Mercy seufzte ermattet. »Ich fühle mich nicht wohl«, antwortete sie. »Jeder geringste Lärm erschreckt mich. Ich bin müde, wenn ich nur über das Zimmer gehe.«
Lady Janet klopfte ihr freundlich auf die Schulter. »Wir wollen versuchen, ob Ihnen eine Veränderung des Aufenthaltes gut tut. Wohin sollen wir gehen? Nach dem Kontinent oder an das Meer?«
»Sie sind zu gütig gegen mich, Lady Janet.«
»Es ist gar nicht möglich, gegen Sie zu gütig zu sein.«
Mercy stutzte. Über ihr bleiches Gesicht flog die Röte freudiger Erregung; sie sah in diesem Augenblicke reizend aus. »O!« rief sie unwillkürlich aus. »Sagen Sie das noch einmal.«
»Ich soll das noch einmal sagen?« wiederholte Lady Janet und sah sie verwundert an.
»Ja. Halten Sie mich nicht für hochmütig; nur für eitel. Ich kann Sie nicht oft genug sagen hören, dass Sie mich liebgewonnen haben. Ist es Ihnen auch wirklich angenehm, mich im Hause zu haben? Habe ich mich, seitdem ich bei Ihnen bin, immer gut benommen?«
Die einzige Entschuldigung für ihre Namensfälschung – wenn es dafür überhaupt eine Entschuldigung gab – lag in der bejahenden Antwort dieser Fragen. Es war gewiss viel, dass man von der falschen Grace sagen konnte, sie sei ihrer Stelle so würdig, dass es die wahre Grace nicht mehr sein könnte!
Lady Janet war über den ungewöhnlichen Ernst, mit welchem diese Bitte an sie gerichtet wurde, halb gerührt, halb belustigt.
»Ob Sie sich gut benommen haben?« wiederholte sie. »Liebes Herz, Sie reden ja wie ein Kind!« Sie legte ihre Hand zärtlich auf Mercys Arm und fuhr in ernsterem Tone fort: »Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass ich den Tag segne, an welchem Sie zu mir gekommen sind. Ich glaube, ich könnte Sie kaum mehr lieben, wenn Sie meine eigene Tochter wären.«
Mercy wandte ihren Kopf plötzlich zur Seite, um ihr Gesicht zu verbergen. Lady Janet hielt noch ihren Arm und fühlte ihn jetzt zittern. »Was ist Ihnen?« fragte sie in ihrer raschen, geraden Weise.
»Ich bin Ihnen nur sehr dankbar, Lady Janet – weiter nichts.«
Sie sprach diese Worte mit matter, gebrochener Stimme. Ihr Gesicht war noch abgewandt, so dass Lady Janet es nicht sehen konnte. »Was habe ich denn gesagt, um diesen Ausbruch hervorzurufen?« dachte die alte Dame verwundert. »Ist sie heute weich gestimmt? Dann ist jetzt der Zeitpunkt, um für Horace ein Wort zu sprechen.« Diesen günstigen Umstand im Augen, näherte sie sich dem heiklen Thema mit der Vorsicht, welche namentlich für den ersten Schritt dringend geboten war.
»Wir haben uns so gut zusammen vertragen«, begann sie wieder, »dass es für keine von uns leicht sein wird, in unserem Leben eine Veränderung eintreten zu lassen. Bei meinem Alter werde ich dies jedenfalls noch schwerer empfinden. Was werde ich dann tun, Grace, wenn der Tag kommt, an dem ich mich von meiner angenommenen Tochter trennen soll?«
Mercy