Sie begann plötzlich zu zittern. Sie hielt sich am Fußende des Bettes fest. Ihre ganze künftige Existenz hing von dieser Antwort ab. Sie war unfähig, ein Wort hervorzubringen.
Ignaz Wetzel diente ihr wieder wie ein Freund. Seine krächzende Stimme füllte die eingetretene Pause gerade zu rechter Zeit aus. Er hielt das Taschentuch mürrisch vor die Augen – und wiederholte dabei beharrlich: »Mercy Merrick ist ein englischer Name. Nicht wahr?«
Horace Holmcroft sah vom Tische auf. »Mercy Merrick?« sagte er. »Wer ist Mercy Merrick?«
Doktor Wetzel zeigte auf die Leiche in dem Bett.
»Ich habe den Namen in ihr Taschentuch gemerkt gefunden«, sagte er. »Diese Dame hier, scheint es, besitzt nicht einmal so viel Neugierde, um sich für den Namen ihrer Landsmännin zu interessieren.« Er machte diese höhnende Anspielung auf Mercy in einem Ton, der wie Verdacht klang, und begleitete sie mit einem blick, dem man fast verächtlich nennen konnte. Ihr rasches Naturell fühlte sogleich die Unhöflichkeit heraus, deren Gegenstand sie gewesen war. Die Erbitterung des Augenblickes – so oft bestimmen die geringfügigsten Motive die wichtigsten Entschlüsse des Menschen – entschied über den Weg, den sie gehen sollte. Sie kehrte dem Alten verächtlich den Rücken und ließ ihn in dem Irrtum, den Namen der Toten entdeckt zu haben.
Horace wandte sich wieder zu seinem Geschäft, das Formular auszufüllen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie zur Beantwortung der früheren Frage dränge«, sagte er. »Sie wissen, was in dieser Zeit deutsche Disziplin sagen will. Wie heißen Sie?« Sie antwortete ihm unbekümmert, trotzig, ohne eigentlich zu wissen, was sie tat, bis es geschehen war.
»Grace Roseberry«, sagte sie.
Die Worte waren jedoch kaum über ihre Lippen, als sie schon alles in der Welt darum gegeben hätte, sie zurücknehmen zu können.
»Miss?« frug Horace lächelnd.
Sie konnte ihm nur mit einem Kopfnicken antworten.
Er schrieb: »Miss Grace Roseberry« – überlegte einen Augenblick – und fügte dann in fragendem Ton hinzu: »Kehrt zu ihren Angehörigen nach England zurück?« Ihre Angehörigen in England! Mercy schwoll das Herz, sie antwortete abermals mit einem Zeichen. Er schrieb diese Worte hinter den Namen und schüttete die Streusandbüchse über die nasse Tinte. »Das wird genügen«, sagte er aufstehend und bot Mercy den Passierschein, »ich werde sie selbst durch die Linie begleiten und dann dafür sorgen, dass Sie auf der Eisenbahn weiter befördert werden. Wo ist Ihr Gepäck?«
Mercy zeigte auf die Tür des Hauses, die nach vorne hinausging. »In einem Schuppen, außerhalb des Häuschens«, antwortete sie. »Es ist nicht viel; ich kann es selbst besorgen, wenn mich die Schildwache durch die Küche gehen lässt.«
Horace deutete auf das Papier in ihrer Hand. »Damit können Sie jetzt gehen, wohin Sie wollen«, sagte er. »Soll ich hier oder draußen auf Sie warten?«
Mercy warf einen misstrauischen Blick auf Ignaz Wetzel. Dieser hatte seine endlose Untersuchung der Leiche wieder aufgenommen. Wenn sie ihn mit Mister Holmcroft allein ließe, konnte man nicht wissen, was der verhasste alte Mann nicht alles über sie sagen würde. Sie antwortete: »Bitte, erwarten Sie mich draußen.«
Die Schildwache trat beim Anblick des Passierscheins salutierend zurück. Alle französischen Gefangenen waren bereits fortgebracht; nur ungefähr ein halbes Dutzend Deutscher befand sich in der Küche, und die Mehrzahl dieser war eingeschlafen. Mercy nahm Grace Roseberrys Kleider aus der Ecke, wo sie zum Trocknen gelegen hatten, hervor und wendete sich nach dem Schuppen, einem rohen Holzbau, der sich an die Mauer des Häuschens lehnte. An der Tür begegnete sie einer zweiten Schildwache und wies ihren Passierschein zum zweiten Male vor. Sie redete den Mann an und fragte, ob er französisch verstehe. Er antwortete, er verstünde es ein wenig. Mercy gab ihm ein Geldstück und sagte: »Ich will da drinnen in dem Schuppen mein Gepäck zusammen machen. Seien Sie so freundlich, acht zu geben, dass ich nicht gestört werde.« Die Schildwache salutierte, zum Zeichen, dass sie sie verstand. Mercy verschwand in dem dunklen Innern des Schuppens.
Als Horace mit Doktor Wetzel allein gelassen war, bemerkte er, wie der Alte sich noch immer aufmerksam über die englische Dame beugte, die durch die Granate getötet worden war.
»Ist etwas Merkwürdiges«, fragte er, »in der Art und Weise, wie das arme Geschöpf getötet ward?«
»Nichts, das man in die Zeitung setzen könnte«, versetzte der Zyniker, ohne seine Aufmerksamkeit im Geringsten von der Untersuchung abzuwenden.
»Ist es ein interessanter Fall für einen Arzt – hm?« sagte Horace.
»Ja, für einen Arzt ist er es«, war die mürrische Antwort.
Horace verstand die Andeutung, welche in diesen Worten lag, und nahm sie gutmütig auf. Er verließ das Zimmer durch die Tür, welche in den Hof führte und erwartete draußen, wie ihm gesagt worden war, die reizende Engländerin.
Allein gelassen, blickte Ignaz Wetzel zuerst vorsichtig um sich, dann öffnete er das Oberteil ihres Kleides und legte seine linke Hand auf ihr Herz. Er nahm hierauf mit der anderen Hand aus seiner Westentasche ein kleines stählernes Instrument und führte es vorsichtig in die Wunde – dann zog er einen Splitter des verletzten Knochens aus der Hirnschale und wartete auf den Erfolg. »Aha!« rief er, indem er in widerlicher Lustigkeit das empfindungslose Geschöpf unter seinen Händen anredete. »Der Franzose sagt, Du seiest tot, meine Liebe – nicht wahr? Der Franzose ist ein Pfuscher. Der Franzose ist ein Esel!« Er hob seinen Kopf und rief nach der Küche. »Max.« Ein verschlafener, junger Deutscher, von oben bis unten in eine Schürze gesteckt, zog den Vorhang beiseite und wartete auf die Befehle. »Bringen Sie meinen schwarzen Sack«, sagte Ignaz Wetzel. Nachdem er diesen Befehl erteilt, rieb er vergnügt die Hände und schüttelte sich wie ein Pudel. »Welches Glück«, krächzte der hässliche Alte und schielte dabei seitwärts mit seinen stieren Augen nach dem Bett. »Meine liebe, tote Engländerin, ich gäbe für diese Begegnung mit dir alles Geld in der Welt. Ja! Du höllischer französischer Quacksalber, du meinst, sie ist tot, nicht? Ich sage, das Leben war unterbrochen in Folge eines Druckes auf das Gehirn!«
Max erschien mit dem schwarzen Sack.
Ignaz Wetzel suche zwei fürchterliche Instrumente heraus, neu und glänzend, und drückte sie an seine Brust. »Meine kleinen Jungen«, sagte er zärtlich, als wären es zwei Kinder! »Meine gesegneten, kleinen Jungen, frisch ans Werk!« Er wendete sich zu dem Gehilfen. »Erinnern Sie sich an die Schlacht von Solferino, Max – und an den österreichischen Soldaten, welchem ich eine Kopfwunde operierte?«
Die verschlafenen Augen des Gehilfen öffneten sich weit; es interessierte ihn offenbar etwas.
»Ich erinnere mich«, sagte er, »ich hielt das Licht dabei.«
Der Meister ging voran zum Bett.
»Ich bin mit dem Resultate jener Operation bei Solferino nicht zufrieden«, sagte er; »seitdem habe ich es immer gewünscht, es wieder zu versuchen. Es ist wohl wahr, dass ich dem Manne das Leben gerettet, aber den Verstand habe ich ihm nicht zurückgeben können. Etwas muss in der Operation missglückt sein, oder es war bei dem Manne schon vorher nicht alles richtig. Sei dem aber wie immer, er lebt und stirbt im Wahnsinn. Nun sehen Sie her, mein kleiner Max, sehen Sie die liebe junge Dame auf dem Bett hier. Sie gibt mir gerade die Gelegenheit, die ich brauche; hier ist wieder der Fall von Solferino. Sie sollen wieder das Licht halten, mein guter Junge; da bleiben Sie stehen und schauen mit so viel Augen, als Sie haben. Ich will versuchen, ob ich das Leben und diesmal auch den Verstand dazu retten kann.«
Er streifte seine Rockärmel auf und begann die Operation. Als seine fürchterlichen Instrumente Graces Kopf berührten, wurde draußen die Stimme der nächststehenden Schildwache gehört, wie sie auf Deutsch das Passwort gab, welches Mercy gestattete, den ersten Schritt auf ihrer Reise nach England zu tun.
»Die englische Dame passiert!«
Die Operation nahm ihren Fortgang. Die Stimme der Schildwache bei dem nächsten Posten wurde schon schwächer gehört.
»Die