»Kann ich in den Wintergarten gehen, Lady Janet?« fragte sie.
»Gewiss, liebes Kind.«
Sie neigte den Kopf gegen ihre Beschützerin, warf einen Blick voll fester, mitleidsvoller Aufmerksamkeit auf Horace Holmcroft – und ging dann langsam durch das Zimmer in den Wintergarten. Horaces Augen folgten ihr, so lange sichtbar war, mit einem neugierigen, widersprechenden Ausdruck von Bewunderung und Missbilligung. Sobald sie ihm aus dem Gesichte war, verlor sich der Ausdruck der Bewunderung und es blieb nur der der Missbilligung. Der junge Mann zog seine Stirne in finstere Falten; er saß schweigend da, die Gabel in der Hand, und spielte zerstreut mit den Überresten des Frühstückes auf seinem Teller.
»Nehmen Sie noch von der französischen Pastete, Horace«, sagte Lady Janet.
»Nein, ich danke Ihnen.«
»Nun dann vielleicht ein Stück Huhn?«
»Ich danke auch hiefür.«
»Reizt Sie denn gar nichts?«
»Wenn Sie erlauben, werde ich noch etwas Wein nehmen.«
Er füllte sein Glas, zum fünften- oder sechsten Mal, mit Rotwein und leerte es, finster, auf einen Zug. Die klaren Augen Lady Janets beobachteten ihn mit gespannter Aufmerksamkeit; ihre flinke Zunge sprach frei, wie sie es gewöhnt war, das aus, was ihr Kopf gleichzeitig dachte.
»Die Luft in Kensington scheint Ihnen nicht gut zu bekommen, mein junger Freund«, sagte sie. »Je länger Sie mein Gast sind, desto öfter füllen Sie Ihr Glas und leeren Ihre Zigarrentasche. Das sind bei einem jungen Mann keine guten Zeichen. Als Sie hier ankamen, waren Sie durch die Verwundung geschwächt. An Ihrer Stelle hätte ich mich nie der Gefahr ausgesetzt, einen Schuss zu bekommen, bloß deshalb, um in der Zeitung eine Schlacht schildern zu können. Übrigens, der Geschmack ist ja verschieden. Sind Sie krank oder quält Sie Ihre Wunde?«
»Nicht im Geringsten.«
»Sind Sie verstimmt?«
Horace Holmcroft ließ seine Gabel fallen, stützte die Ellbogen auf den Tisch und antwortete: »Entsetzlich.«
Selbst Lady Janets weitreichende Toleranz hatte ihre Grenzen. Sie umfasste jede Art menschlichen Vergehens, aber nie die Verletzung des feinen Anstandes. Sie ergriff die nächstbeste, zur Züchtigung geeignete Waffe – einen Esslöffel – und klopfte damit ihren jungen Freund tüchtig auf den Arm.
»An meinem Tisch benimmt man sich etwas anders als im Club«, sagte die alte Dame. »Halten Sie den Kopf in die Höhe. Sehen Sie nicht auf Ihre Gabel – sehen Sie mich an. Niemand darf in meinem Hause übler Laune sein. Ich betrachte dies als eine Unhöflichkeit gegen mich selbst. Wenn Ihnen das ruhige Leben hier nicht behagt, sagen Sie es offen, und suchen Sie sich eine Beschäftigung. Arbeit gibt es überall genug, ich meine – für solche, denen es darum zu tun ist. Sie brauchen nicht zu lächeln. Ich habe gar kein Verlangen danach, Ihre Zähne zu sehen – ich will eine Antwort hören.«
Horace gab mit gehörigem Ernste zu, dass es wohl Beschäftigung geben mochte. Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, bemerkte er, dauere noch fort; die Zeitung habe ihm neuerdings die Korrespondentenstelle angetragen.
»Sprechen Sie nicht von den Zeitungen und dem Krieg!« rief Lady Janet in einem plötzlichen Ausbruch von Ärger, der ihr diesmal von Herzen ging. »Ich hasse die Zeitungen! In dieses Haus dürfen keine herein. Ich lege die ganze Schuld an dem Blutvergießen zwischen Frankreich und Deutschland ihnen zu Last.«
Horace sah sie erstaunt mit weitgeöffneten Augen an. Die alte Dame sprach offenbar in vollem Ernste. »Was meinen Sie eigentlich damit?« fragte er. »Sollen die Zeitungen für den Krieg verantwortlich sein?«
»Natürlich, einzig und allein«, antwortete Lady Janet. »Je nun, Sie verstehen das Zeitalter nicht, in dem Sie leben! Tut denn heutzutage jemand irgendetwas, Kriegführen mit inbegriffen, ohne gleichzeitig zu wünschen, es in den Zeitungen zu lesen? Ich beteilige mich bei einer Wohltätigkeitsanstalt; du erhältst ein wertvolles Zeugnis; er hält eine Predigt; wir erleiden irgendwo eine Kränkung; ihr macht eine Entdeckung; sie werden in der Kirche getraut. Und ich, du, er wir, ihr, sie, alle wollen ein und dasselbe – sie wollen sich in der Zeitung lesen. Sind Könige, Soldaten und Diplomaten vielleicht Ausnahmen von dieser Regel der Menschheit? Nein! Ich sage im vollen Ernst, hätten sich alle Zeitungen in Europa entschlossen, ein- für allemale nicht die kleinste Notiz über den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland im Druck erscheinen zu lassen, so wäre, es ist dies meine feste Überzeugung, der Krieg schon längst aus Mangel an Aufmunterung beendet. Lassen Sie die Feder aufhören, vom Säbel zu sprechen, und ich für meinen Teil bin des Resultates gewiss: Kein Bericht – kein Kampf!«
»Ihre Ansichten haben jedenfalls das Verdienst, vollkommen neu zu sein, Lady Janet«, sagte Horace. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn man sie in die Zeitung setzte?«
Lady Janet schlug ihren jugendlichen Freund mit seinen eigenen Waffen.
»Lebe ich denn nicht in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts?« fragte sie. »In die Zeitung, sagten Sie? Mit großen Buchstaben noch dazu, Horace, wenn Sie mich lieb haben.«
Horace begann ein anderes Gespräch.
»Sie tadeln mich wegen meiner Verstimmung«, sagte er, »und scheinen deren Grund nur darin zu suchen, dass ich meines angenehmen Lebens in Mablethorpe-House bereits überdrüssig geworden bin. Das ist durchaus nicht der Fall, Lady Janet.« Er sah nach dem Wintergarten hin und runzelte abermals seine Stirne. »Die Wahrheit ist«, begann er von neuem, »dass ich mit Grace Roseberry unzufrieden bin.«
»Was hat sie denn getan?«
»Sie beharrt darauf, unseren Brautstand zu verlängern. Nichts kann sie bewegen, unseren Hochzeitstag zu bestimmen.«
Und so war es auch! Mercy war so töricht gewesen, ihm Gehör zu schenken und ihn zu lieben. Aber sie war nicht zu schlecht, ihn unter einem falschen Namen, als eine falsche Person zu heiraten. Vor drei bis vier Monaten war Horace verwundet vom Kriegsschauplatz in seine Heimat geschickt worden und hatte daselbst bei seiner Ankunft die schöne Engländerin, deren Beschützer er in Frankreich gewesen, in Mablethorpe-House als Gesellschafterin installiert gefunden. Von Lady Janet eingeladen, ihr Gast zu sein – als Knabe hatte er stets seine Schulferien unter ihrem Dache verlebt – brachte er nun die müßige Zeit seiner Rekonvaleszenz frei nach Gefallen vom Morgen bis Abend in Mercys Gesellschaft zu – und so kam es, dass der erste Eindruck, welchen sie in dem französischen Häuschen auf ihn gemacht, bald zu mächtiger Liebe emporwuchs. Ehe ein Monat um war, hatte Horace sich erklärt und williges Gehör gefunden. Von jenem Augenblicke an handelte es sich für ihn nur darum, mit der gehörigen Ausdauer und Entschlossenheit sein Ziel zu verfolgen. Die Verlobung war erklärt worden – obwohl ganz gegen den Willen der Braut, und damit war für Horace Holmcroft jeder weitere Fortschritt in seiner Bewerbung abgeschnitten. Er versuchte auf jede mögliche Weise, Grace dazu zu bestimmen, den Tag für die Hochzeit festzusetzen, allein immer umsonst. Es lag nichts im Wege, was ein Hindernis gewesen wäre. Sie besaß keine nahen Angehörigen, auf die sie Rücksicht zu nehmen hatte. Als eine angeheiratete Verwandte Lady Janets war sie der freundlichsten und ehrenvollsten Aufnahme von Seite der Mutter und Schwestern ihres Verlobten sicher. Auch die pekuniäre Frage war in diesem Falle durchaus kein Grund, die Heirat auf einen günstigen Zeitpunkt zu verschieben. Horace war einziger Sohn und seinem Vater im Besitze des Landgutes gefolgt; nebstbei besaß er ein gutes Einkommen, reichlich genug, um dasselbe in Stand zu erhalten. Somit war auf beiden Seiten nichts, gar nichts vorhanden, was die jungen Leute hindern konnte, sobald als die nötigen Vorbereitungen getroffen waren, ihre Vermählung ins Werk zu setzen. Und doch war hier allem Anscheine nach ein langer Brautstand vorauszusehen, und kein anderer Erklärungsgrund für den Aufschub, als der unbgreifliche Eigensinn des Mädchens.
»Können Sie für Graces Benehmen einen Grund angeben?« fragte Lady Janet. Ihr Wesen war verändert, als sie dies sprach. Sie sah betroffen und beunruhigt aus.
»Ich mag es kaum eingestehen«, antwortete Horace, »allein ich fürchte, sie hat einen Grund, unsere Heirat zu verzögern, den sie