»Wenn dein Mann ihm auch nicht gleich zu ähneln brauchte,« und dabei wies sie auf den Professor, der eben hinzutrat, »ein klein wenig nur von seiner Größe und Würde hätte ja genügt, um dich und die Kinder glücklich zu machen!«
Fanny schwieg; aber der Professor sagte: »Da magst du schon recht haben. Das darf uns aber nicht hindern,« und damit wandte er sich an den Anwalt, »so sehr euch meine Worte auch bewegt haben – man ist nun einmal Mensch und kommt aus seiner Haut nicht heraus – nunmehr den Gegenstand rein geschäftlich zu behandeln.«
Dr. Heinrich entnahm seiner Mappe ein Schriftstück.
»Bitte«, sagte der Professor.
»Was ich vorzutragen habe,« erklärte Dr. Heinrich, »ist an die Adresse der Frau Fanny Kersten gerichtet. Alle andern«, und er sah sie der Reihe nach an, »kennen den Inhalt. Ich habe aber den Eindruck, als wenn Frau Kersten den Vorgängen hier überhaupt nicht folgte.«
»Das wäre ja noch schöner«, erklärte entrüstet der Professor. »Ja, für wen sitzen wir denn hier und vergeuden die Zeit, die wir, weiß Gott, nutzbringender verwenden können?« Er wurde feierlich. »In zwei Stunden tritt im Rathause die Kommission, die über die Anlegung von zehn öffentlichen Bedürfnisanstalten beraten soll, zu ihrer ersten Sitzung zusammen. 30.000 Mark verlangt der Magistrat dafür! So etwas will durchdacht und auf seine Notwendigkeit hin geprüft sein! Die Interessen der Allgemeinheit stehen da in Frage, während es sich hier um das Einzelschicksal einer Familie handelt, die noch dazu durch eigene Schuld ins Unglück geriet.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte der Anwalt.
»Ich darf also bitten, liebe Fanny, daß du dich jetzt zusammenreißt. Du sollst Gott danken, daß du uns hast. Andere an unserer Stelle hätten sich längst zurückgezogen.«
Fanny, die mehr fühlte als hörte, was man sprach, richtete sich auf.
»Ja, was wollt ihr denn?« jammerte sie. »Laßt mich doch in Ruhe! Mir ist ja längst alles gleich! Beschließt! Und was ihr bestimmt, soll gelten und gut sein.«
»Wenn dem so ist,« sagte der Anwalt, »um so besser.« Und er entfaltete einen Bogen und las:
»1. Frau Fanny Kersten verpflichtet sich, innerhalb von vierzehn Tagen Berlin zu verlassen und ohne Genehmigung der Familie nicht nach dort zurückzukehren.
2. . . .«
»Halt!« unterbrach ihn der Professor. »Diese selbstverständliche Rücksicht auf uns bedarf wohl keiner Begründung?«
»Wenn mein Hiersein euch geniert – bitte!« – erwiderte Fanny; »mir ist es völlig gleichgültig, wo ich lebe.«
»Ich glaube, du mißverstehst uns«, sagte vermittelnd der Regierungsrat. »Du tust uns leid; von Herzen leid. Und was deinen Mann betrifft: ich für meine Person bedaure auch ihn!« – und zu den andern gewandt fügte er hinzu: »Wenngleich ich das nach außen natürlich nicht zu erkennen gebe.«
»Gott soll hüten«, sagte der Hofbankier Walther, der seine beste Kundschaft verlor, wenn der Skandal an die große Glocke kam.
Und der Regierungsrat unterstrich: »Nach außen, da müssen wir ihn natürlich ganz entschieden verurteilen und von ihm abrücken.«
»Was hat das alles nur mit meinem Fortgang aus Berlin zu schaffen?« fragte Fanny nervös.
»Man sieht,« erwiderte der Professor, »wie du an der Seite dieses Mannes jedes feine Gefühl verloren hast. Sonst könntest du nicht so naiv fragen.«
Und der Anwalt erläuterte: »Ihre Familie hat natürlich den Wunsch, daß alles, was sie und Dritte an diesen empörenden Skandal erinnert, aus dem Gesichtskreise Berlins verschwindet.«
»Natürlich,« bestätigte der Professor, »dadurch, daß du mit den Kindern hier lebst, man euch begegnet, von euch spricht, wird dauernd die Erinnerung an dies Unglück wachgehalten, in dessen letztem Zusammenhang man als Verwandte schließlich auch uns nennt. Seid ihr fort, sieht man euch nicht, so seid ihr und die ganze unglückselige Geschichte bald vergessen. In einer fremden Stadt weiß kein Mensch, wer ihr seid; ich meine, daß du selbst diesen Wunsch haben müßtest: schon mit Rücksicht auf deine Kinder.«
»Über meine Wünsche und Gefühle sprich bitte nicht!« forderte Fanny ziemlich energisch. »Das mache ich schon mit mir selbst ab. Es hat ja auch mit dem Geschäftlichen gar nichts zu tun. Und darauf wollen wir uns bitte beschränken; zumal nach der Offenheit, mit der ihr mir alle begegnet seid, und für die ich euch danke. Denn ich kenne nun eure Gesinnung.«
Sie stieß das alles bestimmt, aber ruckweise heraus; – eine Pause entstand, dann fragte sie plötzlich:
»Was also wird mit Harry?«
»Aber ich bitte,« sagte der Anwalt in unfreundlichem Tone, »wir wollen doch nach der Reihe gehen. Über das alles hat ja Ihre Familie bereits entschieden, und Sie haben Ihre Zustimmung, die juristisch verbindlich ist, zu diesen Entscheidungen ja bereits abgegeben. Also hören Sie mich zu Ende«, forderte er und fuhr fort: »Frau Kersten siedelt mit ihrem gesamten Mobiliar nach München über, woselbst sie eine Pension eröffnet, in deren Leitung sie von ihrer Tochter Luise unterstützt wird.«
»Dieser Vorschlag stammt von mir!« erläuterte die Frau des Oberlehrers. »Da werdet ihr endlich einmal den Wert des Geldes kennen lernen.«
»Laß doch das!« sagte die Frau des Hofbankiers und stieß sie an.
»Die Tragung der Kosten für die Übersiedlung«, fuhr der Anwalt fort, »bis zur Höhe von 1000 Mark hat in hochherziger Weise der Hofbankier und Geheime Kommerzienrat Walther übernommen«, und er krümmte abermals vor ihm und der Frau Gemahlin den Rücken. Dann las er weiter: »Frau Kersten erhält von der Familie im ersten Jahre einen Zuschuß von 3000, im zweiten einen solchen von 2000, im dritten einen von 1000 Mark und verpflichtet sich, die Darlehen zuzüglich 5 Prozent Zinsen vom fünften Jahre ab in monatlichen, noch näher zu bestimmenden Raten zurückzuzahlen.«
Alle sahen zu Frau Fanny hinüber; die aber verzog keine Miene; schien weder verlegen, noch dankbar, noch erstaunt; sagte nur, als der Anwalt im Lesen innehielt und sie ansah:
»Aber bitte, so lesen Sie doch weiter!«
Und Dr. Heinrich schüttelte entrüstet den Kopf und fuhr fort:
»Harry Kersten hängt seine Malerei an den Nagel . . .«
»Waas?« rief Frau Fanny dazwischen.
Aber er las mit erhobener Stimme zu Ende: »– und geht zum Bankier Alois Laqueur, einem Schwager des Hofbankiers Walther, nach Paris in die Lehre!«
»Nie!!« schrie Frau Fanny und sprang auf. »Nie dulde ich das! Harry ist Künstler durch und durch und taugt zu nichts anderem als zum Malen und geht zugrunde, wenn man ihn in irgendeinen Beruf zwängt, in den er nicht hineinpaßt.«
»Bist du noch immer nicht geheilt?« schrie der Professor. »Genügt dir die Enttäuschung noch nicht, die du an deinem Manne erlebt hast? Willst du sie durchaus an deinem Sohne noch einmal erleben?«
»Und dann träfe dich die Schuld, wenn es wieder so käme,« schrie die Frau des Oberlehrers, »dich allein.«
»Wir wollen aus dem Unglück lernen«, dozierte der Oberlehrer und stand auf; ein Zeichen, daß er zu einer seiner beliebten Reden ausholte; der Professor sollte ihn nicht in den Schatten stellen; was der konnte, konnte er auch.
»Wie oft habe ich euch gewarnt,« fuhr er fort und wandte sich zu Fanny, »wenn der Junge die Schule vernachlässigte und tagsüber, statt zu lernen, oben im Atelier deines Mannes saß. Jetzt solltest du endlich einsehen, wie schwer ihr euch an ihm vergangen habt, als ihr ihn Künstler werden ließet. Und das, obschon sich der Hofbankier Walther auf meine Vorstellungen hin bereit erklärte, ihn gegen seine Gewohnheit auch ohne das Zeugnis der Reife in sein Geschäft zu nehmen. – Ich werde den Affront nie vergessen: als ich mit der fröhlichen Botschaft zu deinem Manne kam und ihm das Resultat meiner erfolgreichen Bemühungen beim Hofbankier