»Traugott«, rief Sabine mit geröteten Wangen, »vergiß nicht, daß ich deine Schwester bin. Ich bin ein Bürgerkind, und er wird nie ganz zu uns gehören. Ich bin so stolz wie du. Immer habe ich das Gefühl, daß zwischen ihm und mir eine Kluft liegt, so weit und tief, daß alle Liebe sie nicht auszufüllen vermochte. Vertraue mir«, bat sie unter Tränen, »ich werde dich nicht mehr durch meine Mienen betrüben. Und gegen ihn, den du nicht liebst, sei gütiger. Ertrage auch du das Lästige in seinem Wesen. Bedenke, wie sein Schicksal war. In der Welt herumgeschleudert, in Lagen, welche jedem Gelüst schmeichelten, immer unter Fremden, ohne Liebe und ohne Heimat, so ist er aufgewachsen, in manchem verdorben, aber im Grunde seiner Seele hochsinnig und ein Feind jeder Gemeinheit.« Wieder schlang sie den Arm um den Hals ihres Bruders und sah bittend zu ihm auf. »Vertraue mir, und gegen ihn sei gütiger.«
»Er soll hierbleiben«, sagte der Kaufmann und blickte gerührt in die feuchten Augen der Schwester. »Aber außer meinem Liebling ist noch jemand in unserm Hause, der sich vor dem Einfluß seines Wesens zu bewahren hat.«
»Wohlfart«, rief Sabine heiter. »Für den bürge ich.«
»Du übernimmst viel, du Vormund unserer Herren. Also auch er ist ein Günstling?«
»Er ist zartfühlend und ehrlich, er hängt mit ganzer Seele an dir. Wie treuherzig sah er heut darein, als der andere so ruchlos scherzte. Und er hat Mut! Verlaß dich darauf, er wird auch mit Fink fertig. Zufällig sah ich ihn damals, als ihn Fink so gekränkt hatte. Er sah ordentlich rührend aus. Seit der Zeit habe ich ihn ins Herz geschlossen.«
»Was hat alles in diesem Herzen Raum!« rief der Kaufmann scherzend. »Zuerst und vor allem die große Vorratsstube, die Nußbaumschränke der Großmutter und viele Schock weiße Leinwand. Dann in bescheidener Seitenkammer der gestrenge Bruder, dann –«
»Dann im Vorzimmer alles übrige«, unterbrach ihn Sabine.
»Ja, und jetzt finde ich sogar unsern Lehrling dort einquartiert«, fuhr der Bruder fort.
Sabine nickte. »Er ist ja auch mein Lehrling, er ist ja schon von seinem Vater her ein Kind unserer Handlung. Jetzt wünscht er sich ein Dutzend feiner Oberhemden, Karl hat mir’s zugetragen. Die Tante und ich wollen sie besorgen, du mußt sie ihm bei erster Gelegenheit durch die Post senden. Er ist von Haus aus an solche Überraschungen gewöhnt. Die Tante soll ihm einen geheimnisvollen Brief dazu schreiben.« Sie lachte herzlich bei dem Gedanken an den Brief der Tante, zog an der Teeserviette und rückte die Tassen zurecht, bis alle drei in einer Reihe standen.
»So ist’s recht«, rief der Kaufmann, »jetzt bist du wieder du selbst. Die Linie ist untadelhaft, und die Symmetrie der Serviettenzipfel ist außerordentlich.«
»Man muß doch seine Freude haben«, sagte Sabine. »Ihr Männer tut doch nichts anderes als uns ängstigen.«
Zu derselben Zeit trat Fink in Antons Zimmer, ein Lied trällernd, ohne eine Ahnung des Unwetters im Vorderhause und, die Wahrheit zu gestehen, ziemlich unbekümmert um die Gefühle, welche er dort erregte. »Ich bin um Ihretwillen in Ungnade gefallen, mein Sohn«, rief er lustig, »der Souverän hat mich heut mit haarsträubender Gleichgültigkeit behandelt, und der Schwarzkopf hat mir den ganzen Tag keinen Blick gegönnt. Respektable Leute, aber bis zur Verzweiflung hausbacken! Diese Sabine hat im Grunde Feuer, Stolz, gute Qualitäten, aber auch sie verkümmert in dem ewigen Einerlei. Wenn eine Fliege sich am Kopfe kraut, so erregt das Erstaunen und erregt Skrupel, ob es ihr anständig sei, mit dem rechten oder mit dem linken Beine zu kratzen. – Glück zu, Wohlfart, Sie sind auf dem besten Wege, der Mignon dieses Kontors zu werden, und mich betrachtet man als Ihren bösen Genius. Tut nichts! Morgen gehen wir zusammen in die Schwimmschule.«
Und so geschah es. Seit dieser Zeit fand Fink ein Vergnügen daran, den jüngeren Freund in seine Künste einzuweihen. Er selbst lehrte ihn schwimmen, er bestand darauf, daß Anton zuweilen ein Pferd bestieg, und zwang ihn durch brüderliche Ermahnungen, auf dem Mietgaul Reitkünste zu üben. Ja, er ging in seiner Freundschaft so weit, daß er sich selbst auf einen Mietklepper setzte – wogegen er großen Abscheu hatte – und den Lehrling zur Übung auf seinem eigenen feurigen Pferde reiten ließ. Er schoß mit Anton nach der Scheibe und drohte sogar, ihm eine Einladung zur Jagd zu verschaffen, wogegen aber Anton auf das äußerste protestierte.
Anton lohnte seinem Freunde durch die größte Anhänglichkeit, er war glücklich, einen Genossen zu haben, an dem er so vieles verehren und bewundern konnte, und es tat seinem Selbstgefühl unendlich wohl, daß er als Vertrauter vor vielen andern ausgezeichnet wurde. Fink gewann vielleicht nicht weniger dabei; was zuerst eine Laune gewesen war, wurde ihm schnell Bedürfnis. Es waren glückliche Abende für beide, wenn sie im Schatten der großen Kondorflügel oder in dem bescheidenen Quartier der gelblackierten Katze zusammen saßen in seligem Geplauder über die Eindrücke des Tages, über den Weltlauf oder über nichts; dann erzählte Fink oder trieb Possen, übermütig wie ein kleiner Knabe, und Anton folgte mit Entzücken den kräftigen Gedanken und dem kühnen Ausdruck des vielerfahrenen Gefährten; dann klang bei offenem Fenster ihr Lachen bis tief hinab in das Dunkel des Hofes, so daß der alte zottige Pluto, der sich als Vogt des Hauses betrachtete und von jedermann als ein angesehener Associé der Firma betrachtet wurde, aus seinem leisen Schlummer aufwachte und durch ermunterndes Bellen seine Billigung ihrer guten Laune ausdrückte. Es war eine glückliche Zeit für beide; aus ihrer Vertraulichkeit blühte, zum erstenmal für beide, eine herzliche Jugendfreundschaft auf.
Und doch hörte Anton nicht auf, Fink und das Fräulein mit einer leisen Unruhe zu beobachten; nie sprach er mit seinem Freunde über das, was er ahnend voraussetzte, immer aber erwartete er, daß sich im Vorderhause etwas ereignen würde, eine Verlobung oder ein Bruch zwischen Fink und dem Kaufmann oder etwas anderes Außerordentliches. Aber es kam nichts dergleichen, unverändert verliefen die feierlichen Mahlzeiten an der langen Tafel, unverändert blieben das Antlitz und das Benehmen Sabinens gegen den Freund und gegen ihn. Es schien, als wenn die ernste und emsige Tätigkeit des Geschäftes jedes ungewöhnliche Familienereignis, jede Leidenschaft, jede schnelle Veränderung fernhielte von dem Leben der Hausgenossen. Verstimmung und Hader, Genuß und Schwärmerei, alles wurde niedergehalten durch den unablässigen, gleichmäßigen Fluß der Arbeit.
10
Wieder war ein Jahr vergangen, das zweite seit dem Eintritt des Lehrlings; und wieder blühten die Rosen. Anton hatte beim Schluß des Kontors einen großen Strauß roter Zentifolien gekauft und klopfte an die Tür von Herrn Jordan, um diesem, der ein Gefühl für Blumen hatte, den Salon zu schmücken. Mit Überraschung sah er, gerade wie am ersten Tage seiner Lehrzeit, alle Kollegen in dem Zimmer versammelt und erkannte auf den ersten Blick, daß bei seinem Eintreten eine exklusive Feierlichkeit, welche ihn zurückwies, in den Mienen aller sichtbar wurde. Jordan eilte ihm mit einer leisen Verlegenheit entgegen und bat, er möge auf eine Stunde die Versammlung sich selbst überlassen, es sei etwas Wichtiges zu besprechen, was er als Lehrling nicht hören dürfe. Die gutherzigen Männer hatten ihn bis dahin nur selten empfinden lassen, daß er ihnen an Würden nicht gleichstand, deshalb demütigte ihn die Verbannung doch ein wenig. Er trug den Strauß in das eigene Zimmer und stellte ihn resigniert auf den Tisch, ergriff ein Buch und sah zuweilen darüber hinweg auf das Büschel Rosen, welches sogleich eifrig bemüht war, seinen rosigen Schein bis in die Winkel der kleinen Stube auszubreiten.
Unterdes wurde im Salon feierlich Sitzung gehalten. Der Herr des Salons pochte mit einem Lineal auf den Tisch und eröffnete die Verhandlung: »Wie Sie alle wissen, hat einer der Kollegen das Geschäft verlassen. Herr Schröter hat mir deshalb heut eröffnet,