Jener Fall mit den Hobelspänen war natürlich nicht der einzige, bei welchem die Tante die armen Kinder zurücksetzte. Als Robert eines Tages trübselig zu Hause saß, äußerte er seiner Mutter den Wunsch, ein wenig zur Tante zu gehen. Er ging, kam aber bald zurück mit der Nachricht, daß er nicht vorgelassen worden sei, weil die Tante Besuch habe. Neugierig, den Besuch zu sehen, hatte er durch das Glasfenster der Besuchsstube geschaut und den Onkel Heinrich nebst Frau bei der Tante sitzen sehen. Tief gekränkt, faßte er seinen Schmerz in die für einen so jungen Knaben höchst überraschende Wendung zusammen: „Die Schwester meines Vaters konnte mich nicht empfangen, weil sie den Bruder meines Vaters zum Besuch da hatte.“
So war das elfte Jahr seines Lebens herangekommen, in welchem Robert zum ersten Male das heilige Abendmahl empfing. Wohl der Einzige unter den gleichalterigen Genossen, hatte Robert die Festkleidung, die er am Altar des Herrn trug, sich selbst redlich verdient. Aber auch der kindlich tiefe Glaube an das Wunder des Gnadenmahls des Heilandes mochte vielleicht keinem seiner Gefährten so rein und kräftig innewohnen, wie ihm. Diesen schon seit seinem vierten Jahr durch täglichen Messebesuch und Messedienst bethätigten Glauben bezeugte Robert nun auf’s Neue, indem er seine Eltern nach der Communion bat, ihm zu gestatten, daß er in der St. Martinskirche (seiner Pfarrkirche) in die Reihe der Meßdiener eintreten dürfe. Da mit diesem Amte kleine Einnahmen verbunden waren, die Robert seiner Mutter zuzuwenden hoffte, und außerdem das Recht, die Pfarrschule der Kirche zu besuchen, so gaben die Eltern mit Freuden ihre Zustimmung.
Robert wurde also Meßdiener. Da dieser Dienst die Knaben nur in frühen Morgenstunden und an Sonn- und Feiertagen beschäftigte, so hinderte er nicht am Schulbesuch. Aber aus diesem Dienst, der Alles in sich zu vereinigen schien, was Robert glücklich machte, erwuchsen dem Knaben zum ersten Male in seinem jungen Leben seelische Leiden, die ihn mit tiefem Schmerz erfüllten und in ihrem Verlaufe den festen, treuen Kinderglauben Robert’s zerstörend ergriffen und vernichteten. Den ersten Anlaß hierzu bot folgender Vorgang. Die jungen Meßdiener verweilten in der Kirche schon ehe sie den Gläubigen geöffnet wurde und noch nachdem sie von den Kirchenbesuchern verlassen war. Die Jungen – mindestens aber Robert – beobachteten genau das Benehmen der Geistlichkeit in diesen Momenten, wenn diese unter sich zu sein glaubte. Klagend und weinend berichtete Robert der Mutter: „Er habe die traurige Bemerkung gemacht, daß die stets mit dem Heiligen beschäftigten Leute nicht frömmer als die Anderen seien, ja noch viel weniger fromm. Es falle Keinem derselben ein, vor dem Hochaltar das Knie zu beugen, wenn die Kirche von Menschen leer sei. Sie gingen vielmehr lachend und schwatzend vorbei. Er wolle aber versuchen, durch sein besseres Beispiel auf die Andern zu wirken.“ Bald klagte er der Mutter von Neuem: „Nein, nein, sie Alle sind nicht fromm. Sie haben keine Achtung und Ehrfurcht vor dem im Altar verborgenen Heiland. Es ist nur Scheinheiligkeit, wenn sie in der von Menschen gefüllten Kirche Ehrenbezeugungen an den Tag legen.“ Armes, reines Kinderherz! Du wußtest nicht, daß Jahrhunderte vor dir ein anderes Kind, aus so armem Hause wie du, am zehnten November geboren wie du, denselben Weg zur Erkenntniß gewandelt war, dessen rauhe Bahn du nun betratest. Auch Martin Luther war nicht zuerst irre geworden an der Lehre der römischen Kirche, sondern an ihren geistlichen Dienern. Und als er diese voller Lug und Trug fand, erstreckte sich sein Zweifel auch auf den von solchen Priestern verkündeten Glauben. Denselben Weg der Erkenntniß wandelte Robert Blum.
Jeder wahrhaftigen treuen Natur ist die erste Berührung mit Lüge und Heuchelei eine überaus peinliche Erfahrung. Hier wurde sie um so peinvoller, als die bisher untrügliche letzte Instanz in allen wichtigen Fragen, die Mutter, in ihrem blinden Glauben an die Heiligkeit und Frömmigkeit der Diener der Kirche, die Zweifel Robert’s nicht lösen konnte oder wollte. Er wurde daher nun auch der Mutter gegenüber einsilbig und verschlossen. Seine letzten Gedanken behielt er für sich. Finster und argwöhnisch ging er seinen kirchlichen Functionen nach. Immer weiter griff sein grübelnder Zweifel um sich. Das Nächste, was ihn aufregte, war zum Glück noch eine rein weltliche Betrachtung. Bei Trauungen, Kindtaufen, Begräbnissen &c. legten die Betheiligten Trinkgelder in eine für die Meßdiener bestimmte Büchse. Robert glaubte bemerkt zu haben, daß der Inhalt der Büchse, wenn er zur Vertheilung kam, mit den Einlagen nicht stimme, und seit der letzten Theilung begann er förmlich Buch zu führen über jeden Stüber, der eingelegt wurde. Bei der nächsten Vertheilung des Büchseninhaltes fand sich nicht einmal die Hälfte der von Robert berechneten Einlagen vor. Er nahm seinen geschmälerten Theil, brachte ihn weinend der Mutter, legte ihr sein Verzeichniß vor und berechnete ihr danach, wie viel jeder der jungen Meßdiener eigentlich hätte erhalten müssen.
Die Mutter nahm Geld und Verzeichniß ging zum Hülfsküster, der die Büchse in Verwahrung hatte, und beschwerte sich über solchen „Betrug“. Dieser hörte die Klage staunend an; dann lachte er laut auf und rief einmal über das andere: „Also jetzt rechnen die Jungens nach, was in die Büchse kommt!“ Die gute Mutter mochte in diesem Gebahren des Küsters auf die schwere Anklage nur die Bestätigung Alles dessen finden, was Robert ihr bisher aus seinem vollen Herzen geklagt hatte, und war deshalb wenig geneigt, die Sache von der heiteren Seite aufzufassen. Sie nannte daher dem Küster die Namen aller Personen, die Geld in die Büchse eingelegt hatten, und gab genau die Summe an, die ein Jeder gegeben. Da legte sich der Küster auf’s Beruhigen. Er versprach, die Büchse solle in Zukunft besser aufgehoben, Veruntreuung dadurch unmöglich gemacht werden. Und er hielt Wort.
Für Robert war jedoch dieser Sieg, den sein Scharfsinn für sich selbst und die Kameraden erfochten hatte, mit nichten erfreulich. Bot er ihm doch die traurige Bestätigung, daß er mit seinem Argwohn auf richtiger Fährte gewesen. Da die Mutter nur einen Theil seiner Zweifel zu lösen vermochte und sein Glaube ihm gebot, alles Herzeleid und alle seelische Bedrängniß in der Beichte dem verschwiegenen Priester anzuvertrauen, so flüchtete er mit seinem stillen Weh in den Beichtstuhl. Alles, was er der Mutter geklagt, und mehr noch, so namentlich auch den Zweifel an dem Glauben, daß der mächtige Herrgott in Person sich tagtäglich leiblich von den Gläubigen werde verzehren lassen wollen, schüttete er vor dem lauschenden Ohre des Beichtigers aus. Rauhe Worte und Drohungen mit ewiger Verdammniß waren die Antwort. Er ging nun von einem Beichtvater zum andern. Manche gaben ihm freundlichen Zuspruch, liebevolle Ermahnungen. Aber harte Zurechtweisung war vorherrschend. Der letzte Beichtvater namentlich, an den er sich gewandt, nannte ihn einen verstockten Sünder und verweigerte ihm die Absolution.
Kurze Zeit darauf wurde er zum Pfarrer beschieden. Er ging natürlich hin und fand eine ganze Anzahl Geistlicher beisammen, unter ihnen auch Denjenigen, bei dem er, von Zweifeln gefoltert, Trost, Beruhigung, Glauben suchend, gebeichtet hatte. Vor Allen nimmt dieser Beichtvater das Wort und schildert Robert als einen frechen, anmaßenden Buben, der sich unterstehe, den Lauscher und Aufpasser abzugeben, sich erdreiste zu beurtheilen, ob das Betragen eines geweihten Priesters passend oder unpassend sei, der Rebellion unter den Meßdienern gestiftet und sie gelehrt, ihren Vorgesetzten zu mißtrauen, ihnen aufzupassen, sie wohl gar zur Rechenschaft zu ziehen. Der Knabe, aufgefordert sich zu rechtfertigen, stottert, verwirrt durch den ungeheuren Vertrauensbruch, die Worte heraus: daß er im Beichtstuhl sein Herz offenbart und nun unverbrüchliche Geheimnisse verrathen sehe. „Ach, wir wissen doch Alles“, wird ihm höhnisch entgegengerufen, mit zeitlicher und ewiger Strafe, mit Hölle und Verdammniß ihm gedroht und, um sein Elend vollzumachen, die Mutter gerufen, um auch sie von der Ruchlosigkeit ihres Sohnes in Kenntniß zu setzen. So endete