IV
Bringst Du zur Heimat wieder
Die alte Lieb’ und Treu’,
Dann laß Dich fröhlich nieder,
Es grüßt Dich Alles wieder
Mit alter Lieb’ und Treu’.
Am andern Morgen war der Himmel klar und heiter. Hinter dem Deiche des festen Landes tauchte eben die Morgensonne empor und warf neugierig ihr Strahlenauge über die Halligen hin, um nach den Verwüstungen der vergangenen Nacht zu sehen und zu fragen, ob noch Wesen übrig geblieben, die ihres Lichtes sich freuten. Das Meer floß still und friedlich in seiner gewohnten Bahn und schien den Menschen, in deren Ohr noch das Wogengebrause der letzten Stunden nachklang, lächelnd zu sagen: Ihr habt nur geträumt!
Godber, welcher trotz der Anstrengung, zu der ihn die im vorigen Kapitel beschriebenen Gefahren genötigt hatten, wenig Ruhe fand, trat vor die Thüre der freundlichen Wohnung. Die verschiedenartigsten Gefühle bestürmten sein Herz. Da lag vor ihm der Boden seiner Hallig, nach dem er an den blühenden Küsten Italiens, auf den reichen Fluren Hollands mit solchem Heimweh sich gesehnt; der Boden, auf dem er allein sich glücklich fühlen konnte, von dem sich jetzt wieder loszureißen ihm eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Für diese Heimat hatte er in der Fremde gestrebt und gedarbt; der Gedanke an sie hatte ihn gespornt zur unermüdlichsten Thätigkeit, zum willigsten Gehorsam, zum ängstlichsten Eifer in Erfüllung aller seiner Pflichten; hatte ihn ferngehalten von allen Vergnügungen seines Standes, ihn rastlos gemahnt zum sparsamsten Haushalt. Jeder neue Beitrag zu seinem kleinen baaren Schatz, den er stets bei sich getragen und daher auch jetzt gerettet, war immer der Anfang eines lieben frohen Traumes von der Wiederkehr gewesen, dem er sich an solchen Tagen oft Stunden lang in der Einsamkeit hingegeben. Nur seine Begierde, sich zu unterrichten, sein Streben nach einer Bildung über seinen Stand hinaus, konnte ihn verführen, seinen Schatz zuweilen für diesen Zweck anzugreifen; aber er darbte dann auch nur desto sorglicher, um solche Ausgaben bald wieder zu ersetzen. Nun hatte er es erreicht. Dort stand seine väterliche Wohnung. Schauer des Entzückens rieselten durch sein Gebein; Thränen der Freude brannten auf seinen Wangen. Wer, selbst nicht Halligbewohner, diesen nackten Fleck, auf dem das spärliche Gras von der letzten Ueberschwemmung her noch in schlammigter Glätte niederlag, mit seinen tief ausgefurchten und zerlöcherten Werften angesehen und dazu noch der vergangenen Nacht gedacht hätte, die alle Lebendigen auf dieser Scholle im Meere dem Wellentode so nahe gebracht, der würde nie geahnet haben, daß diese Heimat des Jünglings Freudenthränen hervorgerufen. Aber Godber hatte um dieses Anblicks willen neun Jahre hindurch ein Leben voll Anstrengungen und Gefahren, voll Entbehrungen und Entsagungen ertragen; und hätte er zwanzig Jahre so geduldet und gelitten, ihn würde die Wiederkehr auf diese Flur damit nicht zu theuer erkauft dünken.
Und doch, ganz rein war seine Freude nicht. Er konnte sein Kniee nicht beugen vor dem Gott, der ihn gnädiglich behütet und heimgeführt zu dem Lande seiner Väter. Hätte er es doch gethan! Vielleicht würde er dann ganz sein altes Herz wiedergefunden haben. Es wären die eitlen Träume von ihm gewichen. Das Gelübde der Treue wäre der frommen Maria bewahrt und Idalia’s verführerisches Bild hätte seinen Zauber verloren.
In jedes Menschen Leben tauchen wohl solche Zauberbilder auf, die ihm die innere Klarheit trüben und den hellen Blick rauben für die nächste Pflicht; die, wenn sie nicht bloße Träume der Phantasie sind, sondern vielmehr durch außerordentliche Lagen und Verhältnisse hervorgerufen wurden, ihm als Bestimmungen seines Geschicks erscheinen. Sie gaukeln um seine Seele wie ladende Boten eines Genusses, von dem ihn nur kleinliche Rücksichten und Mangel an Selbstvertrauen bisher zurückhielten, und der ihm gewiß ist, wenn er es nur wagen will, sich in seiner Kraft zu erheben. Sie malen ihm eine Zukunft vor, gegen die Alles, was ihm ruhiges Beharren in dem gewöhnlichen Gleise, treues Festhalten früherer Grundsätze, williger Gehorsam unter dem seither dafür gehaltenen Gesetz Gottes zu bieten vermag, matt und farblos, ja seiner unwürdig vorkommt. Es ist ihm zu Mute wie Einem, der nur den Fuß vorwärts zu setzen braucht, um einer langen Knechtschaft zu entfliehen, um in ein Paradies einzutreten, dessen Pforte er nur zu lange schon sich selbst eigensinnig verschloß. Er fragt sich, warum er nicht die schwachen Riegel, Pflicht und Gewissen, ganz zurückschieben solle? Ja, es will ihn bedünken, als seien die Riegel nur ein Ammentraum, dem er entwachsen, oder als habe er jetzt erst in Wahrheit erkannt, was Pflicht und Gewissen eigentlich von ihm fordern. In solchen Zeiten hat der Mensch in sich selber Nichts, was ihm einen Halt geben oder zum Wegweiser dienen könnte. Er hat gleichsam den gewohnten Boden unter seinen Füßen verloren, auf dem er sonst mit Sicherheit auftrat; ihm ist das Ziel seines ganzen früheren Lebens verrückt und seine Gedanken und Empfindungen sind doch noch nicht heimisch geworden in der neuen Aussicht. Darum hat er keine andere Hülfe, als die von Oben kommt. Er richte sein Sinnen und Denken hinauf zu der festen Burg des klaren Rechtes; er hafte mit Blick und Herz an dem ewigen Worte des Richters der Lebendigen und der Toten; er lasse die Welt mit ihren Träumen einen Augenblick hinter sich und versenke mit voller Hingebung sich in das Anschauen Dessen, der die fromme Brust durch Seinen heiligen Geist zu einer Stätte der Gemeinschaft erwählet des Himmels und der Erden. Und dieser Geist wird ihm die Erleuchtung bringen, deren er bedarf. Die Nebelgestalten werden von ihm gewichen sein, wenn er wieder zurückschaut auf seinen Pfad. Er wird sie erkennen als Schatten einer im Hintergrunde lauernden Sünde und nun klar seinen Weg wissen und ihn mit Zuversicht wandeln.
Aber Godber betete nicht, und sein Auge und seine Seele verfinsterten sich, als sein Blick flüchtig auf Maria’s Wohnung hinstreifte. Es ergriff ihn ein Gefühl wie Gewissensangst; aber er scheute sich vor einer klaren Rechenschaft vor sich selbst und ward froh, als die Erinnerung an das im Sturm verlassene Wrack und die darauf gebliebenen Leute alle andern Gedanken verdrängte. Rasch wandte er seine forschenden Blicke nach dem westlichen Ende der Hallig und – da lag das Schiff gekentert nicht weit vom Strande. Er eilte geflügelten Schrittes darauf zu. Sein Weg aber führte ihn an Maria’s Wohnung vorüber, und es wurde ihm unheimlich um’s Herz, als er in die Nähe derselben kam; sein Blut flog rascher in den Adern und färbte