Es gehört die Stimme eines Propheten dazu, um die Nachtwandler zu wecken, die auf dem Pfade fortgehen, den Oswald betreten, diese Damen und Herren, denen im Besitz und Genuß aller Güter des Lebens nur Eines fehlt, das Leben selber. Aber nirgends deutlicher als an ihnen zeigt sich die Wahrheit des Wortes Christi: „wer nicht glaubet, ist schon gerichtet!“ Die ganze fade Armseligkeit ihres Daseins mitten in der Fülle ist ihr Gericht. Gleich einer Verwünschung wirkt schon die Zeichnung eines ihrer „himmlischen“ Tage auf das Gemüt. Diese stundenlange Toilette mit allen ihren jämmerlichen Künsten und dabei das Entzücken über eine wolgelungene Schleife, über die Zier eines neumodischen Kleides, dieser letzte triumphierende Blick in den Spiegel, dieser Wonnegedanke, so Bewunderung zu ernten. Nur ein paar Besuche gegeben oder angenommen, Gespräche in nichtsmeinenden und nichtssagenden Formeln sich bewegend, oder an der ersten Melone, an der neuesten Oper, an dem letzten Ball mit einer Zähigkeit haftend, als ob man sich es bewußt wäre, daß darüber hinaus aller Gedankenvorrat erschöpft sei. Glücklich, wenn eine Stadtneuigkeit, ein eben herausgekommener Roman, oder ein Körnchen Medisance, das schnell auf fruchtbarem Boden fortwuchert, von der Verstandesmarter, unterhaltend zu sein, erlösen und das Lob eines interessanten Gesprächs auf die Sprecher zurückspiegeln. Nun die Tafel mit ihren Leckerbissen und feinen Weinen. Eine gute Gelegenheit, von zarter Constitution, Krieg und Frieden, Hungersnot und Cholera, Volksaufständen und Militärparaden in demselben Gemenge zu reden, in welchem die Kunst des Koches vorliegt. Dann das Concert, wo die schmelzendsten Töne den Weg nicht zum Herzen, sondern nur zu der zahlenden und klatschenden Hand suchen, oder das Theater, wo Thekla auf die Geisterstimme des Souffleurs lauscht und der ermordete Wallenstein auf die Danksagung gegen das hervorrufende Publikum denkt, während dieses allvergessend von Loge zu Loge kokettirt. Oder der Ball, der, den Staub einer schwindsüchtigen Gallopade aufwirbelnd, noch das letzte Fünkchen Leidenschaft in der hohlen Brust anfacht, um das künstlich erregte Blut mit dem künstlichen Eise wieder zu dämpfen. Und dieses Leben, dessen schmutzige Orgien, so wol sie sich mit der feinen Glätte und Zierlichkeit jener Menschen vertragen, wir nicht aufdecken wollen, sollte nicht mitleidenswert sein? Sollte nicht in seiner Flachheit und Fadheit eine Jammergestalt darstellen, gegen die der frechste und roheste Uebertreter aller göttlichen und menschlichen Gesetze noch ein Mensch ist? Er ist doch noch ein Wesen, das Etwas ist, und darum kann er auch noch inne werden den Richter der Lebendigen und der Toten und umkehren von seinem Wege. Auf jener Flachheit gefriert aber der Thau vom Himmel wie auf dem Spiegel des Eises. In jener Fadheit wird jedes Mannakorn aus den Wolken zu geschmackloser Spreu. Wo eine Kraft wirken soll, da muß auch eine Kraft sein, auf die sie wirken kann, sonst geht ihre Wirkung in leere Winde. Wie soll man aber jene mit Dunst erfüllten Totengerippe fassen? Sie thun den Mund auf und nennen ihre Dunstblasen feine Bildung; sie gehen ihren Weg hin und atmen sich ihre Leichengerüche zu als Nahrung für Geist und Herz. Tritt ihnen das Leben entgegen, so wenden sie sich verächtlich ab, als hätten sie Moder und Verwesung gesehen. Ihre Armseligkeit ist ihnen Reichtum, ihre Erniedrigung Hoheit, ihr Unsinn Weisheit, ihre Verdammnis Seligkeit.
So sind sie, wenn auch für den nur obenhin Schauenden mit lieblicher Schale doch durch und durch eine faule Frucht, die, abgefallen vom Baume des Lebens, im Staube liegt, und sich freuet dieses Staubes, ohne Sehnsucht wieder hinauf zu der grünen, frischen Krone.
Hold mochte, als er später den jungen Mander näher kennen lernte und sich die eigenen in großstädtischen Kreisen gemachten Erfahrungen vergegenwärtigte, manches dem hier Ausgesprochenen Aehnliche gedacht haben. Denn wir finden in einer Handschrift von ihm, der er den etwas auffallenden Titel: „Gesichte“ gegeben hat, und woraus wir vielleicht noch einige Mitteilungen vorlegen werden, aus jener Zeit unter Anderem auch folgendes Gesicht:
Ich sah ein kleines Mädchen mit allen Zügen des Hungers auf den bleichen eingefallenen Wangen und mit der Blöße der tiefsten Armut angetan, am Wege sitzen. Ihr Alter mochte zehn bis zwölf Jahre sein, aber ihr Körper war klein und schlaff, wie das kränkelnde Gewächs eines Treibhauses. – Und ein Weib, reinlich aber ärmlich gekleidet, am Busen einen lächelnden Säugling und an der Hand einen hüpfenden Knaben. Ein Korb hing an ihrem Arm. Ihr eilender Schritt stockte an der Seite des Mädchens am Wege; sie ließ die Hand des Knaben fahren und blickte auf ihren Korb. Aber sie ging vorüber und schritt über einen Steg auf das Feld zu einem arbeitenden Manne. Der wischte sich mit dem nervigen Arm den Schweiß von der Stirne und nahm das schwarze Brod aus dem Korbe, während der Knabe für ihn die Flasche aus der nahen Quelle füllte. Da sah das Mädchen am Wege hinüber nach dem Brote, und der Mann brach es in zwei Hälften und trat hin und gab der Hungrigen die eine Hälfte. Sie dankte ihm mit der Begierde, mit welcher sie die Gabe an ihren Mund brachte. Da glitt der Blick des Mannes noch einmal über die ganze Gestalt hin und er legte nun auch die andere Hälfte des Brotes in ihren Schooß. Das Mädchen vergaß ihren Hunger und blickte ihm staunend nach, wie er über den Graben zurückschritt. Sein Weib aber strich mit der Hand über die Augen, als weinte sie, und wischte dann mit ihrer Schürze sorgsam den Schweiß von seiner Stirne, und es schien mir auch, daß sie ihn küßte. Da setzte er sich mit ihr nieder in den Schatten eines Dornbusches, und neben ihnen stand der leere Korb. Sie aber spielten mit dem lächelnden Säugling. Eine Karosse fuhr unterdessen vorüber auf dem Wege, und die darinnen wandten ihre Augen weg von den Menschen zur Rechten, und ich hörte nur noch den Theaterbericht des Herrn, der zur Linken ritt: Ach! das dumme Stück: die Waise.
Da dachte ich: „sie sind schon gerichtet!“
Weiter ging ich und sah nur noch, wie der Mann im Felde freundlich nickte, als ich dem armen Mädchen, schamrot über die geringe Gabe, zwei Silberstücke gab. Wie viel mehr hatte er gegeben! – Immer schöner entfaltete sich die Gegend vor meinem Blicke. Wie ein Garten Gottes lag sie da, gekleidet in Seiner Schöne, erfüllt mit dem Reichtum Seiner Herrlichkeit, träufelnd von dem Segen Seiner Güte und duftend in dem Odem Seiner Allgegenwart. Dort der Saum schützender Gebirge, deren freie Gipfel aus der Tannenwaldung sich erhoben, hier das weiche Grün kräuterreicher Weiden, auf denen die gesättigte Kuh ihre breiten Glieder in den Klee streckte, während das mutige Roß im geflügelten Lauf seine Kräfte übte. Tiefer hinab der schlängelnde Strom, dem fremden Segler nach den Gefahren des Oceans eine willkommene Straße und dem Fischer am Ufer eine Quelle genügsamen Reichtums. Weiter ging ich, doch nur bis zu der breitästigen, dichtbelaubten Eiche am grünen Hügel. Da drang es, wie eine Stimme aus der Höhe überwältigend in mein Herz: „Sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist!“ Mein Fuß hatte in diesem Tempel Gottes den Altar gefunden, an welchem Keiner vorübergehen