2. Ganz naturrechtlich gedacht, wenn auch durchaus nicht immer von den durch die kirchliche Auffassung stark beeinflußten Naturrechtslehrern vertreten, ist die entgegengesetzte Auffassung: die Selbsttötung ist Ausübung eines Tötungsrechtes. Auch sie findet in den Quellen nicht die geringste Stütze: denn die Straflosigkeit des Selbstmordes kann als solche nicht betrachtet werden. Es gibt straflose Delikte in Fülle.
So ist sie eine rein theoretische Konstruktion, die sich einer vollständigen Verkennung des Wesens der subjektiven Rechte und der üblichen Verwechslung der Reflexwirkungen von Verboten mit solchen Rechten schuldig macht. Da die Tötung nur des Nebenmenschen verboten ist, so wird gefolgert, hat jeder Mensch ein Recht entweder auf Leben oder am Leben oder gar über das Leben – alle drei Auffassungen sind gleich verkehrt – , und kraft dieses Besitzrechtes darf er das Leben ebenso behaupten als von sich werfen, besitzt er also ein Tötungsrecht an sich selbst oder wider sich selbst,16 ja kann dieses vielleicht gar mit Bezug auf sich selbst auf andere übertragen.17
Lasse ich das ganz unmögliche Recht auf oder am oder über das eigene Leben einmal auf sich beruhen – ganz gut dagegen E. Rupp S. 15 – , so ist gegen das Selbst-Tötungsrecht einzuwenden, daß Handlungsrechte nur zu Zwecken verliehen werden, welche der Rechtsordnung generell als ihr konform, ihr förderlich erscheinen. Darin liegt also eine generelle Billigung der Handlung von Rechts wegen. Solche verbietet sich jedoch gegenüber der Selbsttötung unbedingt. Übt diese doch in einer nicht kleinen Zahl ihrer Vorkommnisse auf dem Rechtsgebiet sehr empfindliche schädliche Wirkungen aus: etwa die Begründung weitgehender öffentlicher Unterstützungspflichten. Ja, sie kann geradezu das Mittel zur Verletzung schwerer Rechtspflichten bilden: etwa der Pflichten, seine Schulden zu bezahlen, seine Strafe zu verbüßen, an gefährlicher Stelle vor dem Feinde Vorpostendienste zu leisten oder an einem Angriff teilzunehmen.
Stellt man sich aber einmal auf diesen Standpunkt der Anerkennung von der Rechtmäßigkeit der Selbsttötungshandlung, so ergibt sich,
a. daß niemand ein Recht besitzen kann, den Selbstmörder an seiner rechtmäßigen Tat zu hindern;
b. daß diesem gegen jeden Hinderungsversuch ein Notwehrrecht zusteht;
c. daß, wenn man das Recht jedes Menschen, sich selbst zu töten, gar als ein übertragbares betrachtet, alle sog. Teilnehmer, die mit seiner beachtlichen Einwilligung handeln – aber allerdings nur diese – , gleichfalls rechtmäßig handeln, also gleichfalls daran von niemandem gehindert werden dürfen und gegen jeden Hinderungsversuch die Notwehr besitzen.
Alle Teilnehmer jedoch, die ohne solche Einwilligung handeln, begehen Unerlaubtes, dürfen, ja müssen eventuell an der Ausführung ihrer Handlung gehindert werden, und machen sich im Schuldfall grundsätzlich verantwortlich.18
Ja, vom Standpunkt dieses übertragbaren Tötungsrechtes aus muß sogar d. die Tötung des beachtlich Einwilligenden gleichfalls als rechtmäßige Tötungshandlung betrachtet werden.19
III. Läßt sich der Selbstmord weder als eine deliktische noch als eine rechtmäßige Handlung auffassen, so bleibt nur übrig, ihn als eine rechtlich unverbotene Handlung zu begreifen.20 Diese Auffassung, die freilich in recht verschiedener Formulirung mehr und mehr durchdringt, findet eine verschiedene Begründung, welche Verschiedenheit hier auf sich beruhen bleiben kann. Ich habe mich früher darüber so ausgesprochen: dem Rechte als der Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens »widerstrebe die Scheidung von Rechtssubjekt und Rechtsobjekt auf das Individuum zu übertragen und dieses einem Dualismus untertan zu machen, wonach es auch für sich selbst Güterqualität, vielleicht gar Sachenqualität annehmen muß, damit es Rechte an sich selbst und Rechtspflichten wider sich selbst erlangen könne.«21
Es bleibt eben dem Rechte nichts übrig, als den lebenden Menschen als Souverän über sein Dasein und die Art desselben zu betrachten.22
Daraus ergeben sich sehr wichtige Konsequenzen:
1. Diese Anerkennung gilt nur dem Lebensträger selbst. Nur seine Handlung gegen sich selbst ist unverboten.
2. Diese Anerkennung stellt keine Ausnahme vom Tötungsverbot dar; denn das Verbot untersagt nur die Tötung des Nebenmenschen, und daraus folgt das Unverbotensein der Selbsttötung.
3. Alle sog. Teilnahme am Selbstmord unterfällt der Tötungsnorm, ist also widerrechtlich,23 kann, ja muß unter Umständen unter Strafe genommen werden, falls es nicht, was möglich ist, an der Schuld fehlt. Das »kann« besagt: de lege ferenda, das »muß« besagt: de lege lata, falls der sog. Teilnehmer Mittäter oder Urheber ist.2425
4. Nur die Handlung des Verstorbenen ist unverboten. Ganz ohnmächtig ist er, durch seine Zustimmung auch die Handlungen Dritter zu unverbotenen zu gestalten. Mit allerbestem Grunde betrachtet unser positives Recht die Tötung der Einwilligenden als Delikt.26
5. Ist ihm die Handlung unverboten, so darf ihn niemand daran hindern, wenn er genügend weiß, was er tut; gegen den Hindernden hat er dann das Notwehrrecht; der Zwang gegen ihn, die Handlung zu unterlassen, ist rechtswidrige Nötigung.27
Diese Erretter vom Selbstmord handeln meist optima fide und gehen dann straflos aus. Eine starke Stütze für ihren Standpunkt bildet die Erfahrung, daß der gerettete Selbstmörder oft sehr glücklich über seine Rettung ist und den zweiten Versuch nach dem mißlungenen ersten meist unterläßt.28
IV. Der rechtlich und sozial schwache Punkt der Freigabe aller Selbsttötung ist der Verlust einer ganzen Anzahl noch durchaus lebenskräftiger Leben, deren Träger nur zu bequem oder zu feig sind, ihre durchaus tragbare Lebenslast weiter zu schleppen.
Es fällt dies für die Wertung der Schuld der sog. Teilnehmer stark in die Wagschale. Die bewußte Beihilfe zum Selbstmord des Todkranken wiegt erheblich leichter wie die zu dem der Gesunden, der sich etwa seinen Gläubigern entziehen will.
II. Keiner besonderen Freigabe bedarf die reine Bewirkung der Euthanasie in richtiger Begrenzung
Scheinbar und für eine rein kausale Betrachtung ganz zweifellos eine Tötung Dritter, welche bisher nach meiner Kenntnis strafrechtlich noch nicht verfolgt worden ist, bildet die Herbeiführung der sog. Euthanasie.
I. Der in der neueren Literatur aufgetauchte unschöne Name der »Sterbehilfe«29 ist zweideutig. Völlig außer Betracht muß hier das schmerzstillende Mittel bleiben, das die wirkende Todesursache der Krankheit in ihrer Wirkung beläßt. Allein bedeutsam wird für unsere Betrachtung die Verdrängung der schmerzhaften, vielleicht auch noch länger dauernden, in der Krankheit wurzelnden Todesursache durch eine schmerzlosere andere. Einem am Zungenkrebs furchtbar schwer Leidenden macht der Arzt oder ein anderer Hilfsreicher eine tödliche Morphiuminjektion, die schmerzlos, vielleicht auch rascher, vielleicht aber auch erst in etwas längerer Zeit den Tod herbeiführt.
II. Um die rechtliche Natur dieser Handlung, ihre Rechtswidrigkeit oder ihr Unverbotensein – denn von einem subjektiven Recht ihrer Vornahme kann unmöglich gesprochen werden – ist derselbe m. E. ganz unnötige Streit entstanden wie über die Natur des ärztlichen – richtiger des auf Heilung abzielenden – scheinbaren Eingriffs in die Gesundheit, besonders in die Körperintegrität eines anderen.30
Die Lage, in welcher diese Handlung der Bewirkung von Euthanasie vorgenommen wird, muß aber genau präzisirt werden: dem innerlich Kranken oder dem Verwundeten steht