Die Knaben mußten nach den ersten Rasttagen während dieser Überfahrt tüchtig Botanik und Geographie treiben, daneben aber genossen sie alle die Reize der angenehmen, vom besten Wetter begünstigten Reise, die an jedem Tage neue Abwechselung darbot. Das Meer war hier eine Fundgrube nimmer gesehener Kostbarkeiten, es brachte Unterhaltung und Belehrung zugleich, namentlich da seine blaue Oberfläche in dieser starken Entfernung vom Lande einen Durchblick bis zur Tiefe von etwa fünfzehn Metern überall gestattete, und daher die stummen Bewohner des Wasserreiches deutlich zu erkennen waren.
Große, formlose, häßliche Sepien, mit allen Fangarmen rudernd, grau und unheimlich in ihrer Kopflosigkeit, mit weitem, immer offenen und nur zum Saugen eingerichteten Mund, – die umfangreichsten, gefährlichsten aller Polypen, schwammen träge durch die Tiefe dahin und hielten in ihren zahllosen Armen alles fest, was sie erreichen konnten; der Hai mit seinem Adjutanten, einem kleinen, schlankgebauten, kaum einen halben Meter langen Fischchen umschnupperte zuweilen das Schiff; fliegende Fische tummelten sich in der Luft und fielen auf das Verdeck; selten auch zeigte sich ein riesiger Wal mit allen den schmarotzenden Bewohnern, welche sein stattlicher Rücken jahraus jahrein beherbergt; seltener noch ein besonders fremdartig gebauter, kleinerer Fisch; zu Hunderten und Tausenden dagegen die blauen, rundlichen Polypen, deren Züge oft stundenlang das Meer durchfurchten, und denen wieder eine größere gelbe oder violette Art folgte, die sich von den blauen ernährte, deren häßliche Saugwerkzeuge daher blau gefärbt erschienen.
Einmal bei ganz stillem Wetter sahen die Knaben neben dem Schiff eine purpurrote Kugel von der Größe einer ausgewachsenen Kokosnuß mit einem himmelblauen, gefalteten Kragen und über einen Meter langen Fangarmen vom schönsten Rosa. Die Qualle schwamm, ob auch andrängende Wellen sie zu überschütten drohten, immer auf dem Kamm derselben, einsam im ganzen Glänze einer wunderbar fesselnden Schönheit. Weit und breit ohne ein Wesen gleicher Art, gewährte ihr Erscheinen auf der Oberfläche des unendlichen Meeres den einzigen Ruhepunkt für das Auge, zugleich aber auch ein Bild, das anziehend genug war, um die Aufmerksamkeit der Beschauenden im höchsten Maße zu fesseln.
»Papa Witt!« rief Franz, »schnell, schnell, können wir das Ding nicht einfangen?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Das ist eine Seifenblase,« antwortete er halb ernsthaft, halb lächelnd, »gerade wie das Glück – erfaßt du es, so bleibt von all diesem Glänze nur ein graues, zerstäubendes Etwas!«
»Man kann also die bunten Quallen niemals aus der Nähe besehen?«
»O doch, dann aber muß man sie mit einem Eimer oder anderen größeren Gefäß herausschöpfen, und das ist bei voller Fahrt unmöglich.«
»Papa Witt, könnte denn nicht das Schiff stoppen?«
»Lauf,« lächelte der Alte, »lauf und frage, Junge.«
Franz stürmte fort und hatte zwei Minuten später alles an Deck versammelt, den Kapitän, den Doktor, Holm und Hans. Ein Stück seiner Garderobe flog dem andern nach, er holte unter allgemeiner Heiterkeit ein starkes Seil herbei und ließ sich vom Koch einen leichten Blecheimer geben. »So, wenn nun das Schiff still liegt, laßt mich nur über Bord springen,« rief er. »Einen Hai würdet ihr ja rechtzeitig sehen können, und vor dem Ertrinken habt keine Furcht. Ich schwimme wie ein Fisch. »Jetzt also – paßt auf!«
»Berühre die Qualle nicht, Franz!« lachte Holm.
»Sie beißt dich. Junge!« rief der alte Witt. »Du denkst noch tagelang an ihre Nesseln, wenn sie dich erfassen sollte.«
»Franz,« fügte halb ängstlich der Doktor hinzu, »du müßtest dergleichen Wagestücke doch unterlassen. Bedenke —«
Aber da plätscherte der Junge schon im Salzwasser, die Schaumperlen rollten über seinen Körper dahin, die Woge hob und senkte den kecken Schwimmer. »Springen Sie mir nach, Doktor,« rief er lustig, »es ist viel kühler hier unten, als auf dem Verdeck.«
Der alte Theologe hielt, um desto genauer über den Schiffsrand hinweg in die Tiefe sehen zu können, vorsichtig mit beiden Händen die dritte der bewußten sechs Brillen fest. »Ich?« wiederholte er erschreckt, »du bist ein Erzspitzbube, aber man kann dir trotzdem nicht böse werden. Gib nur acht auf deine Sicherheit.«
Die purpurne Qualle war während dieser Worte dem Knaben entgegengeschwommen. Es schien wirklich schwer, dies kugelförmige Geschöpf für mehr als eine bloße Pflanze zu halten, dennoch aber zeigte das beständige Tasten der Fangarme jenen Zustand teilweisen Lebens, der das Polypengeschlecht zur »Übergangsstation« macht, wie Professor Schleiden es nennt, »zu einer Entwicklungsstufe, die das Tier- und Pflanzenreich verbindet.« Nur Magen besitzt die sonderbare Gattung, keinen Kopf, mithin auch nur einen der an lebenden Wesen gefundenen fünf Sinne, den Tastsinn, und daneben einen breiten, lippenlosen Mund. Einzelne Spielarten sind häßlich, andere sehr farbenreich, besonders die in den tropischen Meeren lebenden.
Franz nahte mit des Kochs großem Blecheimer. Sechsmal und zehnmal hob er ihn mit schnellem Ruck über die Oberfläche, immer aber schaukelte sich die Qualle unbekümmert auf den Wellen, während unser Freund lediglich Salzwasser eingefangen hatte. Ob er noch so sicher glaubte, jetzt das bunte Ding erwischt zu haben, in der nächsten Sekunde lagen wieder einige Schritte Entfernung zwischen ihm und seiner Jagdbeute. – Die übrigen lachten natürlich, dadurch aber steigerte sich der geheime Ärger, welcher den Knaben schon vorher erfaßt hatte, zum Zorn. Schließlich aber sah er ein, daß er nur mit Besonnenheit zum Ziel gelangen könnte. Listig schob er den Eimer seitwärts unter die Qualle. Ein lautes Hurra meldete den anderen den glücklichen Fang. »Na! Na!« brummte der alte Witt, »sind das Streiche. Holt ihn ein, Jungens, aber rasch. Koch, eine Bütte voll Salzwasser an Deck.«
Seine Befehle wurden schleunig ausgeführt. Ein paar Minuten später befand sich der unerschrockene Knabe wieder in der Mitte der anderen, der alte Steuermann selbst setzte die Qualle in das Messinggefäß und das Schiff nahm die Fahrt wieder auf. Franz hatte viele Neckereien zu ertragen. Obwohl ihn aber die roten Striemen, welche das Seil an dem unbekleideten Körper zurückgelassen, heftig schmerzten, so lachte er doch darüber und ließ sich von seinem Bruder helfen, die abgeworfenen Kleidungsstücke wieder anzulegen. Mit stolzen Blicken kniete er vor der Bütte, worin das gefährliche Halbtier schwamm. Es war im Zustande vollen Lebens erhalten, die drei verschiedenen Farben glühten so prächtig wie draußen auf dem Meer, nur schienen seine Tentakeln, wie diese Fangarme heißen, etwas unruhiger zu tasten. Überall, wo sie gegen das Holz der Bütte stießen, zogen sie sich plötzlich gegen den Körper zurück.
»Diese Glieder wachsen, wenn man sie abschlägt, wieder nach,« erläuterte Holm, »später werden wir, gefällt‘s Gott, sogar im Großen Ozean Polypen sehen, deren aus Hunderte von Körperchen bestehende Familie nur eine Mundöffnung und einen Magen besitzt. An dem Burschen hier, der dir so viele Mühe machte, soll das Todesurteil vollzogen werden, nicht wahr, Franz?«
Unser Freund lachte etwas gezwungen. »Nicht meinetwegen, Karl, aber damit man einmal diese Geschöpfe genau kennen lernt.«
Der Koch brachte einen großen Rührlöffel und Holm hob vorsichtig das Tier heraus, um es in eine leere Bütte zu legen Augenblicklich verschwanden die prachtvollen Farben, es ging stufenweise abnehmend alles über in ein fahles Grau, und die Fangarme verloren ihre Fortbewegungskraft. Als Holm einen derselben ergriff, blieb in seiner Hand eine gallertartige, zerrinnende Masse, die höchst unangenehm festklebte. Das Halbtier zerging ohne irgend eine äußere Verletzung, ohne wahrnehmbares Sterben in kurzer Zeit zu formlosem Schleim.
»Sagte ich es nicht,« nickte der alte Witt, »eine Seifenblase.«
»Dort schwimmen mehrere,« rief Franz, – »wie hübsch doch die Dinger in so weiter Entfernung aussehen, wie schade, daß wir diesen Anblick nicht auch unseren Freunden in der Heimat ermöglichen können. Diese Geschöpfe lassen sich ja nicht transportieren, wie wir uns eben selbst überzeugt haben.«
»Und wegen dieser buntschillernden Quallen eine gefährliche Reise