»Wann?«
»Das weiß ich jetzt noch nicht. Am besten ist es, Ihr setzt Euch mit der Verwaltung dieses Hauses in Verbindung, daß sie Euch von unserer Ankunft sofortige Nachricht gibt.«
»Richtig! Das ist das beste, und das werde ich tun!«
Dabei blieb es. Es gab hüben und drüben noch einige höfliche Abschiedsworte, dann war dieser Besuch, der viel größere Wichtigkeit besaß, als selbst ich jetzt dachte, beendet.
Das Herzle konnte nicht ganz mit mir zufrieden sein. Sie ist so sehr zum Mitleid und Erbarmen geneigt, und der ängstliche, gequälte Blick dieses Mannes wollte ihr noch tagelang nicht aus dem Sinn kommen.
Sie meinte, daß ich nicht höflich genug und zu abweisend mit ihm verfahren sei.
»Warum tatest du das?« fragte sie.
»Weil er mich belog«, antwortete ich. »Weil er nicht offen und ehrlich war. Weißt du, wer er ist?«
»Ja.«
»Nun, wer?«
»Einer der beiden übriggebliebenen Söhne jener unglücklichen Familie, deren Glieder alle durch Selbstmord sterben.«
»Ja, das ist er allerdings, aber zugleich auch etwas anderes. Er heißt nicht Enters.«
»Du glaubst, er führt einen falschen Namen?«
»Ja.«
»Hältst ihn also für einen Schwindler, einen Hochstapler?«
»Nein. Grad weil er ein ehrlicher Mann ist, trägt er nicht seinen eigentlichen, richtigen Namen. Er schämt sich desselben. Ich vermute sogar, daß er nur infolge meiner drei Bände ,Winnetou‘ auf diesen Namen verzichtete.«
Sie war so erstaunt hierüber, daß sie mich weiterzufragen vergaß. Darum fuhr ich unveranlaßt fort:
»Hältst du es für möglich, daß ich überzeugt bin, seinen wirklichen Namen zu wissen?«
»Sage ihn!« forderte sie mich auf.
»Dieser Mann heißt nicht anders als Sander.«
Da warf sie mir im höchsten Erstaunen die atemlose Frage hin:
»Welchen Sander meinst du? Den Mörder von Winnetous Vater und Schwester?«
»Ja. Der Mann, der bei uns war, ist sein Sohn.«
»Unmöglich, unmöglich!«
»Gewiß, gewiß!«
»Beweise es!«
»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Du müßtest es ebenso schnell und leicht erraten haben wie ich.«
»Wirklich? Bis jetzt erkenne ich nur das Eine, daß du ihn für einen Lügner hältst, weil er sich Enters anstatt Sander nennt.«
»Wie falsch von dir, wie falsch! Wüchsen meine Folgerungen nur aus diesem einen Punkt heraus, so wäre ich ein außerordentlich schlechter Fährtenleser, ein Greenhorn, ein Hans Tapps, und hätte mich meiner Logik wegen rot und blau zu schämen. Ich bitte dich aber, daran zu denken, daß er sich extra einen Vorleser engagierte, um sich sofort Notizen machen zu können. Wie lange ist es wohl her, daß er dies tat?«
»Eine ganz beträchtliche Reihe von Jahren. Das sagte er ja selbst.«
»Schön! Und wozu hat er sich diese Notizen gemacht?«
»Aus rein literarischen Gründen, zu Buchhändlerzwecken. Auch das sagte er selbst.«
»Ganz richtig! Und hier liegt die Lüge, bei welcher die Fährte beginnt, die zu seinem richtigen, wirklichen Namen führt. Er selbst hat zugegeben, daß er Großhändler in allerlei Schlachtvieh war, und du weißt sehr genau, wann er aufgehört hat, dies zu sein. Oder nicht?«
»Doch! Dieses Geschäft wurde erst im vorigen Jahr verkauft. Das hat er gestern beim Arzt gesagt.«
»Und dennoch schon vor so langen Jahren bereits rein ,buchändlerische‘ Notizen? Glaubst du das?«
»Nein! Jetzt nicht mehr! Du, jetzt fange auch ich an, klarzusehen. Vielleicht ist es gar nicht einmal wahr, daß er jetzt Buchhändler ist!«
»Fällt ihm gar nicht ein! Aber mit diesem Gedanken hast du dich neben mich auf die richtige Fährte gestellt! Ueberlege folgendes: Kaum hat er bei einem Bekannten von meinem ,Winnetou‘ gehört, so engagiert er sich einen besonderen Mann zum Uebersetzen und Vorlesen dieser Erzählung. Ist etwa anzunehmen, daß er bei diesem Bekannten dem Vorlesen aller drei Bände beigewohnt hat?«
»Gewiß nicht.«
»Das ist auch meine Meinung. Er hat nur Einiges oder gar nur Weniges gehört. Wenn er sich sofort hierauf einen besonderen Privatübersetzer engagierte, um das ganze Werk unter vier Augen kennenzulernen, so muß dieses Einige oder dieses Wenige von außerordentlicher Wichtigkeit für ihn gewesen sein, muß irgendeinen Punkt seines tiefsten Seelenlebens gepackt und ergriffen haben. Oder glaubst du daß diese Wichtigkeit vielleicht doch schon eine ,rein literarische, eine buchändlerische‘ gewesen ist?«
»Nein.«
»Oder eine geschäftliche?«
»Ebensowenig. Sie war, wie du ganz richtig vermutest, eine psychologische, eine seelische.«
»Das heißt mit andern Worten, daß sie sich auf sein Innenleben, auf sein Privatleben, auf sein Familienleben, also auch auf seine Familienverhältnisse bezog. Er machte während der Vorlesungen Notizen. Warum und wozu? Doch nicht etwa nur, um nichts zu vergessen. Was Einen so tief in der Seele packt, das merkt man sich gewiß, auch ohne Notizen zu machen. Er hat zugegeben, daß diese Notizen ihm als ,notwendig‘ erschienen seien und ihm auf seinen Nachforschungen im Westen jahrelang als Führer gedient haben – —«
»Etwa nach dem verschollenen Vater?« fiel da das Herzle ein.
Da nickte ich ihr zu und antwortete:
»Du, das war fein, sehr fein! Ja allerdings, nach dem verschollenen Vater! Ich wollte noch einige andere Folgerungen und Schlüsse herbeiziehen, um mich dir begreiflich zu machen; da du mir aber gleich mit diesem Hauptergebnisse kommst, so ist das, wenigstens für einstweilen, nicht mehr nötig. Ich habe nur noch auf die Dringlichkeit zu zeigen, mit welcher er die Lage der beiden Orte zu erfahren versuchte, die er, wie er sich ausdrückte, ,noch nicht aufzufinden vermochte‘. Ich meine selbstverständlich den Nugget-tsil und das Dunkle Wasser.«
»Muß sich diese Dringlichkeit nur auf Sander beziehen?«
»Ja.«
»Nicht auf irgendeine andere Person? Und auch nicht auf die Nuggets?«
»Nein. Von Personen käme nur ich allein in Betracht, denn alle Andern sind unwichtig oder gar tot, und anzunehmen, daß er grad meinetwegen so jahrelang den Westen durchforscht habe, wäre lächerlich. Er hat ja durch seinen heutigen Besuch bewiesen, daß er sehr wohl weiß, wie schnell und wie leicht ich zu finden bin. Und was die Nuggets betrifft, so hat er ja gelesen, daß sie für immer verloren sind und von keinem Menschen mehr gefunden werden können. Also: Von den Ereignissen am Nugget-tsil und am Dunklen Wasser kommen nur zwei Personen in Betracht, nämlich Sander und ich; alle Andern sind unendlich nebensächlich, sind verschwun den; ich aber habe auszuscheiden; folglich bleibt nur noch Sander. Und nun, paß auf, Herzle, kommt noch ein Hauptgrund, auf den ich mich stütze! Dieser sogenannte Mr. Enters will meinen ,Winnetou‘ kaufen. Wozu? Etwa um ihn übersetzen, drucken und verbreiten zu lassen?«
»Nein, sondern um zu verhindern, daß die Erzählung da drüben in englischer Sprache erscheint. Da hattest du Recht. Das hörte man den Worten dieses Mannes an, besonders auch dem Schreck, den er nicht verbergen konnte, als er gegen alle seine Erwartung hörte, daß er die Bücher nicht bekommt. Man soll da drüben die Vergangenheit und die Taten seines Vaters nicht kennenlernen.«
»Ja. Zwar wollte ich das erst folgern, und du kommst meinem logischen Schluß vor; aber es ist das für mich eine Tatsache, an der ich nicht im geringsten zweifle. Er hat geglaubt, mich mit einer Tasche voll Dollars übertölpeln