»Warum brauch’ ich mich dann vor dem Rückwärtsschauen, das mir wohl thut, zu fürchten?« unterbrach sie ihn lebhaft und blickte ihm neu ermuntert ins Antlitz.
»Weil Du dabei den anderen leicht auf den Fuß trittst! Das thut weh, sie werden Dir gram, sie lernen Dir, die Du liebenswerter bist als sie alle, sie lernen Dir grollen!«
»Mit Unrecht, denn ich bin mir bewußt, so lange ich lebe keinen Menschen geflissentlich betrübt oder beleidigt zu haben.«
»Ich weiß; aber unbewußt ist es tausendmal geschehen.«
»So war’ es am besten, ich flöhe sie gänzlich.«
»Nein, tausendmal nein! Wer sich von den anderen zurückzieht und sich der Einsamkeit ergibt, denkt etwas Großes zu thun, und sich über ein Dasein zu stellen, das er verachtet. Aber forsche nur näher nach: der Eigennutz, die Selbstliebe treibt ihn in die Höhle und Klause; in jedem Falle vernachlässigt er, um das zu erringen, was er für sein Heil hält, die höchsten Pflichten gegen die Menschheit, oder sagen wir nur gegen die Gesellschaft, zu der wir gehören. Sie ist ein großer Körper, und jeder Einzelmensch soll sich als Glied desselben betrachten, ihm dienlich und nützlich zu sein suchen und sogar, wo es not thut, sich bereit zeigen, ihm Opfer zu bringen. Die schwersten sind nicht zu schwer. Aber wer sich auf sich selbst stellt, aber Du — nein, bitte, höre mich zu Ende; denn ich wage es vielleicht nicht zum zweitenmal, mich der Gefahr auszusetzen, Dich zu erzürnen — Du willst ein Körper für Dich sein. Was Paula erlebt und besessen, das hält sie im Schatzhause ihrer Erinnerungen hinter Schloß und Riegel versteckt. Was Paula ist, das meint sie eben sein zu müssen, und wofür? Wieder nur für dieselbe Paula. Sie hat großes Leid erfahren, und davon lebt ihre Seele; aber diese Kost ist verwerflich, ist ungesund und schlecht!«
Da wollte sie sich erheben, er aber beugte sich, ganz Eifer und voll überzeugt, sich nicht unterbrechen lassen zu dürfen, ihr entgegen, berührte flüchtig ihren Arm, als wollte er sie auf dem Diwan festhalten und fuhr unbeirrt fort:
»Du nährst Dich von altem Leid! Recht schön! Hundertmal hab’ ich’s gesehen: der Schmerz kann veredeln. Er kann wackere Seelen befähigen, anderer Weh tiefer zu empfinden, er kann in ihnen die Sehnsucht wecken, anderer Leiden mit schöner Opferfreude zu lindern. Wer Schmerz und Unlust kennt, der genießt Wohlsein und Lust mit doppelter Freude; der Leidende lernt auch die kleinen Güter des Lebens mit Dank genießen. Aber Du? Schon lange hab’ ich nach Mut gerungen, es Dir zu sagen, doch Du ziehst aus dem Schmerz keinen Nutzen, weil Du ihn in Dich verschließest wie kostbaren Samen, den man in einer silbernen Kapsel mit sich herum trägt. In die Erde soll man ihn senken, damit er aufkeimt und Frucht trägt! Doch ich will ja nicht tadeln, ich möchte nur raten, raten als Dein treuster, ergebenster Freund! Lerne Dich doch als Glied des Körpers fühlen, dem das Schicksal Dich hier nun einmal beigesellt hat, mag er Dir gefallen oder auch nicht. Denke darauf, ihm zu gewähren, was Deine Befähigung ihm zuzuführen gestattet. Du wirst es finden, es wird Dir gelingen, ihm etwas zu sein, und gleich öffnet sich die Kapsel, und mit Erstaunen und Freude nimmst Du wahr, daß der Samen, den Du auf die Erde streust, aufgeht, daß sich Blüten entfalten und Früchte bilden, aus denen sich Brot gewinnen läßt oder Arznei für Dich und für andere! Dann lässest Du, wie es in der Bibel heißt, die Toten ihre Toten begraben und widmest den Lebenden die reichen Kräfte und schönen Gaben, welche sich von einem hohen Vater und einer edlen Mutter, ja von einer hervorragenden Ahnenreihe auf die würdige Enkelin vererbt haben. Dann wirst Du zurück erlangen, was Du verloren: die Freude am Dasein, das wir genießen und ausbeuten sollen, weil es eine Verpflichtung in sich schließt, der nachzukommen uns nur ein einzigesmal gewährt wird. Vor Hunderttausenden hat Dich eine freundliche Schickung gebildet, um geliebt zu werden, und vergissest Du nicht des Dankes, den Du ihr dafür schuldest, dann werden die Herzen, die sich vor dem Baume, der sich künstlich mit abwehrenden Stacheln besetzt hat, der die Zweige hängen läßt, wie die Trauerweiden am Nil, sich Dir zuwenden, und Du wirst ein neues, schöneres, beglücktes und beglückendes Leben führen. Aus dem öden, reizlosen Dasein, das Du hier zu keines Menschen und am letzten zu Deiner eigenen Freude hinschleppst, wirst Du — es steht in Deiner Macht — ein fruchtbringendes, befriedigendes, heilsames und beglückendes Atmen und Handeln im Lichte machen können. Wenn Du hergekommen bist, um die beklagenswerte Kranke zu pflegen, dann hast Du schon den ersten Schritt gethan auf dem neuen Wege, den ich Dir zu Deinem wahren Glück weisen möchte. Ich hatte Dich hier nicht erwartet, und ich bin dankbar für Dein Kommen, weil ich weiß, daß der Eintritt in diese Thür Dich auf den Weg zu neu erwachendem Wohlsein stellen kann, wenn Du den Willen hast, ihn zu beschreiten. Gott Lob, da wär’ es heraus!«
Dabei erhob sich der Arzt, und während er die perlende Stirn trocknete, schaute er ängstlich auf Paula, die tief atmend und so verwirrt und unschlüssig, wie er sie noch nie gesehen, auf ihrem Platze verblieben war. Sie hielt die Stirn in der Hand und blickte, als suche sie einen Schmerz zu verbeißen, schweigend in den Schoß.
Da schlug der junge Mann die Arme zusammen wie ein Arbeiter, wenn ihm in kalter Winterszeit die Hände erstarren, und rief schmerzlich bewegt. »Ja, gesprochen hätt’ ich, und daß es geschehen ist, darf mich nicht reuen; aber was ich voraussah, das trifft nun ein: um die beste Freude, die mir mein Alltagsleben versüßt, werde ich kommen! ‘s ist ein schönes Gebot, Plato zu lieben, aber mehr noch als Plato die Wahrheit; doch wer es übt, muß eben darauf gefaßt sein, daß diese Wahrheit die Freunde aus der unbequemen Nähe des armen Wahrheitsapostels fortscheucht.«
Da erhob sich Paula und streckte, gehorsam dem Antrieb ihres braven Herzens, dem Arzte die Rechte herzlich entgegen; er aber ergriff sie mit beiden Händen, drückte sie so stark, daß es dem Mädchen fast weh that, und rief mit feuchten, strahlenden Augen: »Das hab’ ich gehofft, das ist schön, das ist edel! Dürft’ ich doch Dein Bruder sein, Du herrliches Mädchen! Komm jetzt! Wenn unter einer Hand, so kann das arme, irrsinnige, todeswunde, schöne Geschöpf dort unter der Deinen genesen!«
»Ich komme,« entgegnete sie warm, und es lag etwas Gesundes und Heiteres in ihrem Wesen, wie sie auf das Krankenzimmer zuschritt; doch mitten auf dem Wege veränderte sich der Ausdruck ihrer Züge und nachdenklich erhob sie die Frage: »Angenommen, wir stellten die Unglückliche her; wozu würd’ es ihr gut sein?«
»Dazu, daß sie atmet und das Sonnenlicht schaut,« versetzte der Arzt, »daß sie Dir dankbar sein und endlich wieder für das Ganze thun kann, was sie vermag, daß sie — alles in allem — daß sie lebt, lebt; denn das Leben — fühl es, empfind es mir nach — das Leben ist dennoch das Höchste!«
Paula schaute dem begeisterten Manne erstaunt in das mißgestaltete Antlitz.
Wie freudig es strahlte!
Niemand hätte ihm in dieser Stunde nachsagen dürfen, daß es unschön sei und des Reizes entbehre!
Er glaubte an das, was er mit so warmer Empfindung gerufen, und doch widersprach es der Ansicht, die er noch gestern gehegt und so häufig verteidigt hatte, daß das Leben an sich ein elendes Ding sei für jeden, der es nicht mit eigener Kraft zu erfassen und etwas Rechtes daraus zu machen verstehe. In diesem Augenblick war es ihm wirklich das Höchste.
Paula schritt ihm voran, und sein Auge hing an ihr wie das der frommen Wallfahrer an dem Heiligenbilde, zu dem er mit wundem Fuß über Berge und Meere gepilgert.
Jetzt nahten sie sich dem Bette der Kranken. Die Nonne trat vor ihnen zurück und machte sich ihre eigenen Gedanken über des Arztes verändertes Wesen und die glückselige, kindliche Heiterkeit, mit der er Paula erklärte, worin die Gefahr für die Verwundete liege, welchen Feldzugsplan er entworfen, um das arme Wesen zu retten, wie die Umschläge zu machen, die Medikamente einzuflößen und wie nötig es sei, so lang das Fieber anhalte, auf die Wahnvorstellungen der Irrsinnigen einzugehen und sie zu behandeln, als wären sie verständige Gedanken.
Endlich mußte er sich entfernen, um nach anderen Leidenden zu sehen, Paula aber blieb an dem Kopfende des