IV. Die Staatsrechtslehrertagung 1959 in Erlangen
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Erste Befassung der Staatsrechtslehrer mit Europa
Am Ende der Jahre der Avantgarde stand die Staatsrechtslehrertagung 1959 in Erlangen. Ein mit Hans Peters,[84] Arnold Köttgen[85] und Otto Bachof[86] ausgewiesen „verwaltungsrechtlicher Vorstand“ wählte als erstes Berichtsthema „Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften“ und ließ dazu Georg Erler und Werner Thieme vortragen.[87] Die völkerrechtliche Diktion des ersten Berichtsgegenstandes lenkt heute möglicherweise davon ab, dass es besonders in Thiemes Referat auch um verwaltungsrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Montanrecht ging. Thieme untersuchte den Konflikt zwischen dem Grundgesetz und „der öffentlichen Gewalt zwischenstaatlicher Gemeinschaften“ vor allem anhand zweier praxisrelevanter Fallgruppen: zum einen dem von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutz durch die Montanunion und den Gerichtshof, zum anderen der Vereinbarkeit des Haftungsrechts der Montanunion mit Art. 34 GG. Methodisch wurden die Sachprobleme des Montanrechts dabei in den Erfahrungsraum des deutschen Verwaltungsrechts übersetzt. So diskutierte Thieme, an eine Kritik Carl Hermann Ules anknüpfend,[88] ob Art. 33 Abs. 1 EGKS-Vertrag, der die Würdigung der wirtschaftlichen Gesamtlage für nur eingeschränkt überprüfbar durch den Gerichtshof erklärte, den Rechtsschutz unzulässig verkürze. Mit dem Hinweis, dass es im Grunde um die Lehre vom behördlichen Beurteilungsspielraum gehe, entschied sich Thieme für die grundsätzliche Nichtüberprüfbarkeit, wobei das verfügbare, wenn auch überschaubare Schrifttum zitiert wurde, darunter überwiegend Autoren aus dem „inneren Kreis“ teilnehmender Beobachter.[89] Diese Argumentation setzte sich fort mit den Fragen des Klagerechts montanfremder Unternehmen, des Rechtsschutzes gegen Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen der Hohen Behörde und der gegenüber dem Grundgesetz verkürzten Amtshaftung der Montanunion. Im Ergebnis sei nur in einem Fall eine Auslegungsänderung des Montanrechts geboten, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen. In dem Argumentationsansatz zeigt sich die später noch zunehmende, starke Verfassungsausrichtung der Verwaltungsrechtswissenschaft. Berichterstatter Erler hatte demgegenüber bereits den – heute vertrauten – Standpunkt unter Hinweis auf die Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG gewählt, dass für die Rechtsstellung von Unternehmen und Individuen nicht die materiellen und formellen Rechtsschutzvorschriften des Grundgesetzes, sondern die besonderen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts maßgebend seien.[90]
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Gemeinschaften als „administrative Gebilde“
Die Jahrestagung 1959 zeigt, dass das „organisierte Europa“ in der Staatsrechtslehre und damit nach ihrem Selbstverständnis auch in der Verwaltungsrechtswissenschaft angekommen war[91] – jedes Mitglied hatte Gelegenheit, sich mit der Thematik des Zusammenwirkens von überstaatlichem und deutschem Recht vertraut zu machen. Dass es zu entsprechenden Anregungen kam, belegt eine Diskussionsäußerung von Ernst Forsthoff am zweiten Tag, an dem über den „Plan als verwaltungsrechtliches Institut“ beraten wurde.[92] Forsthoff stellte eine Verbindung zwischen dem ersten und zweiten Tagungsthema her. Er meinte, nun das erste Mal etwas verstanden zu haben, und zeigte sich – fragend – gegenüber dem Gang möglicher Einwirkungen (noch) offen. Die transnationalen Gemeinschaften seien administrative Gebilde. In dem politischen Willen zu gemeinsamen Administrationen sah er eine für die moderne, industriell-technische Welt charakteristische Verschiebung der Gewichte, in denen die Staatsrechtslehre das Verfassungsrecht und das Verwaltungsrecht einander zugeordnet fände.[93] Diesen Standpunkt hat Forsthoff später häufiger wiederholt, jedoch wendeten sich seine Äußerungen ins Skeptische. Die supranationalen Organisationen seien ein „weiterer, wesentlicher Posten auf der Minus-Seite der demokratischen Bilanz“, weil von einer wirksamen demokratischen Kontrolle bei den betreffenden Organen angesichts der bei ihnen vereinigten wichtigen Funktionen „im Ernste nicht die Rede sein“ könne.[94] Es kam jedoch nicht dazu, dass er in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts systematisch auf konkrete dogmatische Folgen oder Entwicklungslinien von Einwirkungen des Europarechts auf das nationale Verwaltungsrecht einging, im Gegenteil, auffällig ist vielmehr das Schweigen zu Europa. Möglicherweise stand er der europäischen Integration zu wenig nahe und wollte auch keinen Versuch mehr unternehmen, tiefer in das Sachgebiet einzusteigen, obwohl er mit seiner theoretischen Ausrichtung, den hervorragenden französischen Sprachkenntnissen und seinem Interesse an der Industriegesellschaft dazu berufen gewesen wäre. Die Aussprache zum ersten Beratungsgegenstand berührt zudem das – von Thieme ausdrücklich auch vertretene – Anliegen, die öffentliche Gewalt der Gemeinschaften an die Menschenrechte in Gestalt der EMRK oder zumindest an die nationalen Grundrechte zu binden, was kontrovers diskutiert wurde.[95]
1. Beobachtungen und Rechtfertigungen
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Aufmerksamkeitsfelder
Der Blick auf verschiedene, mit Inkrafttreten des EWG-Vertrags kompetenziell abgegebene, aber erst durch Sekundärrechtsetzung zum Vollzug angegangene Themen verdeutlicht, dass die Aufmerksamkeit weniger aus der Verwaltungsrechtswissenschaft an sich kam, als von Rechtswissenschaftlern und Praktikern, die zuvor schon mit einem speziellen Themenkreis befasst waren. Von Interesse sind daneben besonders Fundstücke von Verwaltungsrechtlern, die die Europäisierung nur peripher erwähnen und einordnen, zeigen sie teilweise doch ein klares Bewusstsein von der Betroffenheit des „eigenen Fachs“. Während auf der Beobachtungsebene vergleichbare Wahrnehmungen vorliegen, werden daran sehr unterschiedliche Folgerungen geknüpft, die auch davon abhängen, welcher Alterskohorte die Verwaltungsrechtler zuzuordnen sind. Mit Blick auf den zu jener Zeit immer noch überschaubaren Umfang der Literatur[96] kam man als Vertreter der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht mehr umhin, die Wirkung des Gemeinschaftsrechts im deutschen Öffentlichen Recht wahrzunehmen.
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Bewusstes Ausblenden der Europäisierung
Für eine verwaltungsrechtswissenschaftlich folgenlose Beobachtung steht beispielhaft der 130 Seiten umfassende Bericht Arnold Köttgens 1962 im Jahrbuch des öffentlichen Rechts mit dem Titel „Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung“. Der Autor erklärt, warum das Gemeinschaftsrecht inhaltlich keine Rolle spielt und weshalb er dieses außer Acht gelassen hat. Im Rahmen seiner Überlegungen zu Umfang und Gegenstand des Berichts fragt Köttgen, ob der Bund eines Tages die Länder mit dem Vollzug europäischer Rechtsvorschriften beauftragen könne. Er hält dies nur über eine Verfassungsänderung für möglich und fährt dann selbstreflexiv fort: „Es mag sein, daß unter diesen Umständen über kurz oder lang ein Bericht, der sich auf die ‚Einflüsse des Bundes auf die deutsche Verwaltung‘ beschränkt, nur noch als ein antiquierter Torso erscheint, der die eigentlich treibenden Kräfte unberücksichtigt läßt. Dies gilt umso mehr, als sich das auch sonst zu beobachtende Phänomen einer alle abgezirkelten Zuständigkeiten überspielenden Interdependenz gerade auf der europäischen Ebene als höchst wirksam erwiesen hat.“ Im Ergebnis bleibt er aber dabei: „Trotzdem muß sich dieser Bericht auf eine Darstellung der innerdeutschen Entwicklung beschränken, obwohl diese durch die europäische Politik bereits heute erheblich präjudiziert wird.“[97]
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Nationaler Charakter des Verwaltungsrechts
Ein anderes, prominenteres Beispiel ist Ulrich Scheuners[98] Aufsatz aus dem Jahr 1963 zum Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf die deutsche Rechtsentwicklung. Die Überlegungen beginnen mit der Feststellung, dass das „Verwaltungsrecht zu denjenigen Rechtsmaterien gehört, in denen die nationale Eigenart eines Volkes und Staates sich am stärksten ausprägt.“ Es weise deshalb, anders als das Verfassungsrecht, verhältnismäßig wenig Verflechtungen auf.[99] Der Aufsatz steht für den Standpunkt eines führenden Vertreters der deutschen Staatsrechtslehre, dass der nationale Charakter des Verwaltungsrechts im Grunde äußere Einwirkungen – nicht nur französische, sondern auch europäische –