II. Introspektive Verwaltungsrechtswissenschaft
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Regeneration der Verwaltungsrechtswissenschaft
Der liberale Rechtsstaat ist auf das Verwaltungsrecht angewiesen.[14] Mit der inneren Zerstörung des Rechtsstaats nach 1933, der Ausbreitung des Lenkungs- und Marktgestaltungsrechts sowie der Leistungsverwaltung, wie auch der Zentralisierung hoheitlicher Gewalt wurde nicht nur das Verwaltungsrecht beschädigt, wie es sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, sondern auch die Verwaltungsrechtswissenschaft. Die wichtigsten bis 1933 erschienenen Lehrbücher waren teilweise veraltet, spätere Lehrbücher hatten „dem Nationalsozialismus allzu stark nachgegeben und damit ihre eigene Bedeutung wesentlich beeinträchtigt“, wie Hans Peters[15] in seinem noch während der Diktatur begonnenen Lehrbuch der Verwaltung schrieb.[16] Walter Jellinek[17] legte sein 1931 in dritter Auflage erschienenes großes Lehrbuch „Verwaltungsrecht“ 1948 wieder auf, indes nur in Form eines unveränderten Nachdrucks, zu dem 1950 ein vierzigseitiger Nachtrag zum Grundgesetz erschien.[18] Im selben Jahr folgte dann die erste Auflage des späterhin weitverbreiteten Lehrbuchs[19] von Ernst Forsthoff,[20] worauf die Einordnung passt, dass „in den fünfziger Jahren die objektiv besten Lehrbücher so gut wie ausschließlich von Kollegen geschrieben worden [sind], die durch ihre Vergangenheit im Dritten Reich belastet waren.“[21] Das Fach war personell ausgezehrt und damit beschäftigt, sich wissenschaftlich zu regenerieren.[22] Seine Vertreter mussten entscheiden, welche Wissensbestände sie in welchem Umfang übernehmen, anpassen und fortentwickeln wollten, wie sie mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes den Rechtsstaat rekonstruieren[23] und die einsetzende Konstitutionalisierung erfassen und verarbeiten sollten. „Die Perspektive des deutschen Staatsrechts erlaubte nur die Wahrnehmung der nächsten und dringendsten Probleme.“[24] Auch der Verwaltungsrechtswissenschaft war „Europa“ – trotz der rechtsvergleichenden Tradition des Faches – in der Besatzungszeit und den Jahren 1950/51 entrückt.
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Staats- und Völkerrechtswissenschaft
Dieser Befund verändert sich graduell, wenn Ausgangspunkt der Beobachtungen das Öffentliche Recht insgesamt ist, also auch die Vertreter des Staats- und Völkerrechts umfassender berücksichtigt werden. Bereits in den Beratungen des Parlamentarischen Rates war den Mitgliedern, besonders den Architekten der Außenverfassung, Carlo Schmid[25] und Hermann von Mangoldt,[26] zwar bewusst, dass die völkerrechtlichen Regelungen nicht der staatlichen Lage entsprachen. Sie wurden jedoch „auf Zuwachs“ in das Grundgesetz aufgenommen, in der Hoffnung, die Souveränität über die inneren und äußeren Angelegenheiten in einem überschaubaren Zeitraum wiederzuerlangen. Die völkerrechtlichen Regelungen sollten bezeugen, dass das deutsche Volk entschlossen sei, „mit einer europäischen Tradition zu brechen, die in der ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte und ihren letzten Sinn sah.“ Denn nur wenn das deutsche Volk seine volle Entscheidungsfreiheit, die Souveränität, wiedererlangen würde, wäre es in der Lage, sich politisch, ökonomisch und konstitutionell in ein geeintes Europa einzubringen.[27] Über ein Konstrukt wie die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ferne Montanunion wurde nicht diskutiert, dafür aber die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten vorgesehen. In der Diskussion des späteren Art. 24 GG spielten die Bedingungen der Übertragung eine Rolle, so dass Schmid davor warnte, den günstigen politischen Eindruck dieser Norm nicht durch die Aufnahme zu vieler Kautelen zu verwischen. Der Wunsch Deutschlands solle deutlich zum Ausdruck kommen, dass durch „übernationale Administrationen“ „letzten Endes ein einiges Europa“ entstände.[28] Wie noch zu zeigen sein wird,[29] ist die verfassungsrechtliche Kompetenz für Hoheitsrechtsübertragungen der zentrale, erste Bezugspunkt auch für die Verwaltungsrechtswissenschaft zu Europa. Denn die „übernationalen Administrationen“ assoziieren das in das 19. Jahrhundert zurückreichende Internationale Verwaltungsrecht[30] und bringen Kollisionsprobleme zwischen den beteiligten Rechtsordnungen hervor, die in der nationalen Rechtsordnung vom Verwaltungsrecht adressiert werden.
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Mentalreservation
Die folgenden Überlegungen werden auch zeigen, dass dieser Prozess nicht allein von Rechtstatsachen, ihrer Kenntnis und kognitiver Verarbeitung, sondern auch von mentalen Dispositionen abhängt. Das psychologische Moment der Abwehr des in das deutsche Verwaltungsrecht „eindringenden“ Gemeinschaftsrechts war durchaus verbreitet und erklärt das zögerliche Hinwenden zum Neuen, vor allem auch unter der älteren Juristengeneration. Dieses noli me tangere ist mehr als eine emotionale Bauchentscheidung einzelner Wissenschaftler, sondern ist im Kontext des rechtsstaatlichen Zusammenbruchs seit 1933, des Wiederaufbaus, des Abstreifens der Besatzungsherrschaft 1955 und der Verfeinerung des verwaltungsrechtlichen Systems zu sehen. Auf diesen Kontext wirkt nun eine europäische Kraft – von außen – zunächst besonders durch Rechtsprechung, später auch durch Rechtsetzung ein,[31] die rechtswissenschaftlich, handwerklich und dogmatisch nicht auf der Höhe der Zeit zu sein scheint und die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen auf mittlerem Niveau nivelliert.[32]
III. Akzessorietät zur Verfassungsdebatte
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Konkretisiertes europäisches Verfassungsrecht
Der Grund für die periphere Aufmerksamkeit, die die Verwaltungsrechtswissenschaft den Europäischen Gemeinschaften oder sogar der EMRK unmittelbar auch über die 1950er Jahre hinaus schenkte, ist ihre bis in die 1970er Jahre reichende Akzessorietät zur Verfassungsdebatte. Die Hauptthese dieses Beitrages lautet, dass die Vertreter der Verwaltungsrechtswissenschaft sich erst dem Gemeinschaftsrecht und der „Europäisierung“ innerlich wie rechtspraktisch zuwendeten, nachdem die Mehrheit der Verwaltungsrechtswissenschaftler einen neuen „verfassungsrechtlichen“ Bezugspunkt für ihr Fach im Gemeinschaftsrecht ausmachen konnte. Erst als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine Perspektive für einen rechtsstaatlichen Rahmen in den Gemeinschaften selbst zeigte, namentlich europäische Grundrechte gewährleistet wurden und rechtsanwendungsfähige Konkretisierungen eines europäischen Rechtsstaatsprinzips[33] entstanden, ließ die von Beginn an beobachtete Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts sich unter dem modifizierten Leitmotiv „Verwaltungsrecht als konkretisiertes europäisches Verfassungsrecht“ verarbeiten und über eine systematische Funktionsteilung zwischen europäischem und nationalem Verwaltungsrecht nachdenken.[34] Dass die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft dem berühmten Leitmotiv vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“[35] überwiegend folgte, zeigt bereits die Debatte über Maßstab und Inhalt rechtsstaatlicher Bindung bei den ersten Schritten in der Montanunion,[36] die in der Erlanger Staatsrechtslehrertagung 1959 ein größeres Forum fand[37] und deren rechtsdogmatischer Kern die Bemühungen um die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts