II. Klassifikationsraster für Integrationsgemeinschaften – der Beitrag
des internationalen Verwaltungsrechts
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Klassifikationsversuche in deutungsoffenen Gründerjahren
Die Gegenwartsperspektive auf die europäische Integration, das Wissen um die unausweichliche Bedeutung und Dominanz zunächst der Europäischen Gemeinschaften und später der EU, kann zu Rückprojektionen verleiten. Sicherlich stehen die Gemeinschaften für neue Rechtsordnungen, „haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“[65] Diese herrschende Diktion ist das Ergebnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit Mitte der 1960er Jahre, die sich erst allmählich auch in der Rechtswissenschaft durchsetzte. In der noch deutungsoffenen Frühphase der Gründerjahre kamen aus der Rechtswissenschaft erste Klassifikationsversuche, die die Weiche in Richtung einer eigenständigen zwischenstaatlichen Kooperationsform stellten, aber gleichwohl – wenn auch vermutlich nicht beabsichtigt – die Völkerrechtswissenschaft für vordergründig zuständig erklärten.
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Völkerrechtliche Deutung
Für eine solche historisch-systematische Erfassung der Europäischen Gemeinschaften steht Hartwig Bülck. Mit Robert von Mohl und Lorenz von Stein als historischen Gewährsleuten sah Bülck die Montanunion und die EWG als natürliche Fortentwicklung des internationalen Rechts. Er bezog sich dabei auf deren Deutung des Völkerrechts, wonach ein von Machtfragen und Diplomatie beherrschtes ius publicum europaeum, das sich nur kommentieren und weniger systematisch durchdringen ließe, von einem „systematisierungsfähigen zwischenstaatlichen Kooperationsrecht im wirtschafts- und fremdenrechtlichen Bereich“, das sie internationales Verwaltungsrecht nannten, unterschieden werden konnte.[66] Bülck sah in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen „hybriden Musterfall der ohnehin allgemein beobachtbaren wechselseitigen Annäherung des internationalen Privatrechts und Völkerrechts.“[67] Das internationale Verwaltungsrecht bezeichnete insofern keine verwaltungsrechtliche, sondern eine koordinationsrechtliche völkerrechtliche Materie gemeinsamer Wirtschafts- und Verkehrsinteressen der Staaten. Bülck hielt an dem Begriff fest, bemerkte aber: „Gegenüber dem in doppeltem Sinne souveränen Griffe Neumayers scheint es jedoch dem internationalen Verwaltungsrecht nicht zu gelingen, seinen alten Geburtsnamen für seinen neuen, fortentwickelten Begriff wieder durchzusetzen. Man zieht ihm seit dem Schumanplan von 1950 ein neues Wort vor: Su pranationales Recht, das man dann freilich auch mit fortschrittlicher Konsequenz nach seiner öffentlich-rechtlichen Seite hin supranationales Verwaltungsrecht nennen müßte.“[68] Bülck setzte seine Einordnung zwischen Kontinuität und Neuentwicklung bis in die Mitte der 1960er Jahre konsequent fort,[69] verstärkte diese mit einer historischen Argumentation und widersprach dem sich herausbildenden Mainstream, der die Eigenständigkeit des Europarechts betonte.[70] Ein Autor wie Bülck dachte im Nebeneinander von Europarat, Montanunion, (gescheiterter) EVG und EPG, NATO und OEEC sowie den neu zuzuordnenden EWG, EAG und EFTA.[71] Die in der Kategorie des „internationalen Verwaltungsrechts“ gespeicherten Erfahrungen, die aus völkerrechtswissenschaftlichen Materien stammten, erleichterten erste Näherungen und Einordnungen im dynamischen Sachbereich regionaler europäischer Organisationen.[72] Sie bestärkten jedoch zugleich die Völkerrechtswissenschaft, dass es sich um neue Fragen in ihrem akademischen Sprengel handele.
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Widerspruch
Der Klassifikationsversuch mit seinem völkerrechtlichen Zugriff überzeugte zunächst, wie wir indirekt an einer Äußerung Hans Peter Ipsens[73] aus dem Jahr 1964 sehen können, der der „konventionell-völkerrechtlichen“ Methode bescheinigte, „heute noch […] in der deutschen literarischen Auseinandersetzung und darüber hinaus am weitesten verbreitet“ zu sein, die anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich eingeschlossen. Ipsen erklärte diese Dominanz damit, dass die Probleme des Gemeinschaftsrechts „geraume Zeit hindurch geradezu monopolistisch von unseren Völkerrechtlern gepflegt worden“ seien und dass Art. 24 Abs. 1 GG zum Hauptthema des „Gutachten-Krieges zum EVG-Vertrag“[74] geworden sei.[75] Allerdings gab es auch Stimmen aus der Völkerrechtswissenschaft selbst, die einen dezidiert anderen Standpunkt vertraten. Wegen seiner Verhandlungsteilnahme am hervorgehobensten war Hans-Jürgen Schlochauer,[76] der das Neue des europäischen Zusammenschlusses mit politischem Unterton und merkbarer Bundesstaatsvision betonte. Die EGKS sei eine selbständige, mit Völkerrechtspersönlichkeit ausgestattete Institution, die eigene Kompetenzen auf einem bestimmten Sachgebiet kraft Völkerrechts ausübe. Der Gründungsvertrag schaffe auf einem begrenzten, „jedoch entscheidend wichtigen Wirtschaftsgebiet eine bundesstaatsähnliche Ordnung.“[77]
III. Zuordnungsversuche aus dem Wirtschafts(verwaltungs)recht
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Das Neue erfassen und verstehen
Das Phänomen der neugegründeten europäischen Organisationen weckte vereinzelt bei weiteren Rechtswissenschaftlern Interesse, die das Neue aus ihrer fachlichen Perspektive zu erfassen suchten und sich deshalb mit den ihr jeweiliges Teilrechtsgebiet betreffenden Fragen befassten. Es ist eine vornehmlich wirtschaftsrechtliche Perspektive, die neben Öffentlich-Rechtlern auch durch Vertreter des zivilistischen Wirtschaftsrechts repräsentiert wird.[78] Carl Hermann Ule[79] veröffentlichte 1952 einen Aufsatz mit dem Titel „Der Gerichtshof der Montangemeinschaft als europäisches Verwaltungsgericht“, in dem er Zuständigkeit und Funktionen des EGKS-Gerichtshofs untersuchte und sie überwiegend denen eines Verwaltungsgerichts zuordnete.[80] In Ernst Rudolf Hubers[81] zweibändigem, umfassendem Wirtschaftsverwaltungsrecht, das 1954 in zweiter Auflage erschien, findet sich kein eigener Abschnitt zur Wirkung des Rechts der Montanunion in der Kohle- und Stahlwirtschaft. Lediglich im Abschnitt zu den Grundfragen der Wirtschaftslenkung meint Huber, eine Paradoxie zu erkennen. Während nunmehr „innerwirtschaftlich die Doktrin der freien Wettbewerbswirtschaft“ verfochten werde, würden in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen Lenkungs einrichtungen und -maßnahmen „großen Stils“ entwickelt. Er meint den Marshallplan, welcher die Voraussetzungen für eine Liberalisierung der Binnen- und Außenwirtschaft geschaffen habe, sodann auch die Montanunion, die ein Lenkungsinstrument „von außerordentlicher Wirksamkeit“ auf dem geschaffenen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl darstelle.[82] Bei diesen generellen Strukturbeobachtungen blieb es jedoch, was einen Grund in der begrenzt-sektoriellen Integration durch die Montanunion haben dürfte. Allerdings fand ein Autor wie Hans Peter Ipsen durchaus wirtschaftsverwaltungsrechtliche Verbindungslinien,