Vertikalverhältnis
Das Primärrecht, insbesondere der AEUV, enthält zahlreiche Bestimmungen, die ausdrücklich, konkret und unbedingt Rechte und Pflichten für Einzelne im Verhältnis zu ihrem Mitgliedstaat (Vertikalverhältnis) begründen und damit unmittelbar anwendbar sind (vgl. etwa Art. 101 Abs. 1, 265 Abs. 3 AEUV).[63] Die explizite Formulierung von Individualrechten ist dabei nach der Rechtsprechung des EuGH keine zwingende Voraussetzung. Es genügt, dass aus einer Bestimmung individuelle Rechte abgeleitet werden können.[64] Entsprechend wird aus dem Primärrecht auch den Grundfreiheiten unmittelbare Anwendbarkeit beigemessen.[65] Daneben gewährt der EuGH (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts unmittelbare Anwendbarkeit,[66] die zwar offenkundig keines Umsetzungsakts bedürfen, aber regelmäßig kaum als „genau“ bezeichnet werden können.[67] Schließlich können auch die Bestimmungen der GRCh unmittelbare Anwendbarkeit genießen.[68]
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Horizontalverhältnis
Ob primärrechtliche Bestimmungen daneben auch im Horizontalverhältnis zwischen Privaten unmittelbar anwendbar sind (sog. unmittelbare Drittwirkung), richtet sich ebenfalls nach der konkreten Bestimmung. In der Sache ist eine zunehmende Anerkennungspraxis des EuGH zu beobachten: So hat der Gerichtshof eine Drittwirkung für die Vorschrift über das gleiche Arbeitsentgelt[69] und die Grundfreiheiten, insbesondere soweit einer Seite als „intermediäre Gewalt“ eine besondere Vormachtstellung zukommt, – bei berechtigter Kritik[70] – befürwortet.[71] Eine horizontale Wirkung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes hat der EuGH zumindest für das Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters angenommen.[72] Auch einzelne Bestimmungen der Grundrechtecharta hat der EuGH zuletzt unter Privaten – über den Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRCh hinaus[73] – für unmittelbar anwendbar erklärt.[74] Die „Grundsätze“ (z. B. Art. 25, 26[75], 27[76], 33 Abs. 1 GRCh) sind jedenfalls nicht „drittwirkungsfähig“.[77]
b) Sekundärrecht
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Verordnungen
Für Verordnungen liegt die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit durch die in Art. 288 Abs. 2 S. 1 AEUV angeordnete „allgemeine Geltung“ und ihren Charakter als Rechtsvorschriften, die in den Mitgliedstaaten ohne Transformation gesetzesgleich wirken, auf der Hand.[78] Gleichwohl kommt es auch hier auf den konkreten Inhalt der Verordnung, insbesondere die hinreichende Bestimmtheit, an.[79] Neben der Möglichkeit der unmittelbaren Anwendbarkeit im vertikalen ist auch jene im horizontalen Verhältnis allgemein anerkannt.[80]
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Richtlinien I
Grundsätzlich abzulehnen ist demgegenüber die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien, die (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) dem nationalen Gesetzgeber, im Sinne von Subsidiarität, Rücksichtnahme auf nationale Rechtsstrukturen und Verhältnismäßigkeit, hinsichtlich der Art und Weise („Wie“) der Erreichung des unionsrechtlich vorgegebenen Ziels („Ob“) einen Spielraum belassen und ihrem Wesen (zweistufiger Rechtsakt) nach auf mitgliedstaatliche Umsetzung ausgerichtet sind.[81] Individuelle Rechtspositionen werden hier grundsätzlich durch den nationalen Umsetzungsakt vermittelt. Der EuGH geht jedoch – mit Billigung des BVerfG[82] – davon aus, dass Richtlinienbestimmungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist[83] ausnahmsweise unmittelbar anwendbar sind, soweit sie erstens hinreichend genau und unbedingt sind, sodass sie im Einzelfall ohne weitere Umsetzungsmaßnahme angewandt werden können[84], und zweitens nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt wurden.[85] So kann eine Umsetzungsnachlässigkeit oder -verweigerung der Mitgliedstaaten sanktioniert werden. Um Mitgliedstaaten keinen Vorteil durch ihre Säumigkeit zu verschaffen, wird eine unmittelbare Anwendbarkeit jedoch nur zugelassen, wenn sie sich nicht belastend für die Bürgerin bzw. den Bürger auswirkt.[86] Einer unmittelbaren Anwendbarkeit steht es freilich nicht entgegen, wenn sich mittelbar-reflexartig aus der Anwendung einer Richtlinie gegenüber einer staatlichen Stelle negative Folgen für Dritte ergeben.[87]
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Richtlinien II
Eine unmittelbare Drittwirkung unter Privaten (horizontale unmittelbare Anwendbarkeit) ist für nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinien sehr umstritten, wird aber von der h. M., insbesondere der Rechtsprechung, zutreffend verneint.[88] Diese Unterscheidung ergibt sich zwar noch nicht aus dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV.[89] Entscheidend ist aber, dass die benachteiligende Anwendung einer Richtlinie auf eine natürliche oder juristische Person, an die sich die Richtlinie nicht originär wendet und die zudem auf ihre Umsetzung keinerlei Einfluss hat, rechtsstaatlichen Bedenken begegnet.[90] Diese lassen sich auch nicht mit dem Verweis beseitigen, dass Private bloß so gestellt werden, wie sie bei einem unionsrechtskonformen Verhalten des Mitgliedstaates stünden.[91] Auch der Sanktionsgedanke gegenüber dem säumigen Staat lässt sich hier für eine unmittelbare Wirkung nicht fruchtbar machen. Durch die Verneinung einer horizontalen Drittwirkung sind Private gleichwohl nicht schutzlos gestellt. Kompensatorische Funktion kommt regelmäßig einem weiten Staatsbegriff und damit einem weiten Anwendungsbereich der vertikalen Konstellation,[92] der richtlinienkonformen Auslegung[93] und dem unionsrechtlichen Staathaftungsanspruch[94] zu.[95]
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Beschlüsse, Empfehlungen, Stellungnahmen
Für individualgerichtete Beschlüsse der Union legt Art. 288 Abs. 4 AEUV ihre unmittelbare Anwendbarkeit im vertikalen Verhältnis nahe.[96] Für staatengerichtete Beschlüsse lassen sich Parallelen zur Richtlinie bilden: Für eine unmittelbare Anwendbarkeit zulasten des Staates kommt es im Einzelfall darauf an, ob eine Umsetzungsfrist verstrichen ist und die Beschlussvorschriften inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind.[97] Eine unmittelbare Anwendbarkeit in der horizontalen Konstellation ist auch hier abzulehnen.[98] Empfehlungen und Stellungnahmen fehlt es gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV an der Verbindlichkeit und damit auch an der inhaltlichen Unbedingtheit. Ihnen kann daher jedenfalls für sich genommen keine unmittelbare Anwendbarkeit zukommen.[99]
D. Vorrang des Unionsrechts
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Funktionsbedingung des EU-Rechts
Entscheidend für das Funktionieren einer Rechtsgemeinschaft ist vor allem, wie im Falle von Normkollisionen ein Konflikt zwischen unionalem und mitgliedstaatlichem Recht aufgelöst wird. Eine hierarchische Ordnung, die Kollisionen kraft der etablierten Rangregel lex superior derogat legi inferiori bewältigen könnte, besteht zwischen der unionalen und der deutschen Rechtsordnung nicht.[100] Schlüsselkonzept zur Auflösung von damit rechtsordnungsübergreifenden Normkonflikten ist der Vorrang des Unionsrechts. Dieser ist für die EU als supranationale Akteurin elementare Funktionsbedingung.[101] Er sichert nicht nur die Einheit und Wirksamkeit ihres Rechts, sondern ihr politisches Gestaltungsprimat.[102] Der Vorrang des Unionsrechts findet sich – nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags (vgl. Art. I-6 VVE) – an eher versteckter Stelle, nämlich in der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon. Die Erklärung ist rechtlich allerdings kein Teil des Primärrechts (Umkehrschluss aus Art. 51 EUV).[103] Sie ist rechtlich nicht bindend, kann aber nach Art. 31 Abs. 2 WVRK zur Auslegung herangezogen werden.[104]
1. Geltung
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Keine Konfliktvermeidung auf Kompetenzebene
Die Anwendung einer Kollisionsnorm setzt zunächst die Gültigkeit der kollidierenden Normen voraus,[105] insbesondere müssen diese kompetenzgemäß erlassen sein. Angesichts der kaum bestehenden exklusiven Kompetenzzuweisung im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten kommt einer solchen vorrangigen[106] „Konfliktvermeidung kraft Kompetenzausscheidung“[107] indes – anders als etwa im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht[108] – kaum Relevanz zu.[109] Für Unionsrechtsakte gilt dies zudem deshalb, weil diese nach der Rechtsprechung des EuGH eine Gültigkeitsvermutung trifft und der EuGH sich das Verwerfungsmonopol