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Weisungsrechte
Eine punktuelle Verwirklichung findet der Gedanke einer Verwaltungshierarchie zudem in sekundärrechtlich eingeräumten Weisungsrechten der europäischen Ebene. Erlangt die Kommission etwa im Bereich des Produktsicherheitsrechts Kenntnis davon, dass bestimmte Güter eine „ernste Gefahr für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher in mehr als einem Mitgliedstaat“ bedeuten, dann kann sie die Mitgliedstaaten unter näher definierten Voraussetzungen zum Erlass geeigneter Maßnahmen verpflichten.[222] Im Beihilferecht sind die Brüsseler Wettbewerbshüter/-innen ermächtigt, „Aussetzungs-“ und „Rückforderungsanordnungen“ bzw. „Rückforderungsbeschlüsse“ gegenüber den Mitgliedstaaten zu treffen.[223] Bemerkenswert ist im Übrigen, dass Weisungen gegenüber der nationalen Verwaltung auch durch Agenturen ausgesprochen werden können. Exemplarisch hervorzuheben sind insoweit die entsprechenden Befugnisse des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) gegenüber den nationalen Abwicklungsbehörden im Bereich der Bankenabwicklung.[224]
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Selbsteintrittsrechte
Ein weitergehendes Instrument vertikaler Einwirkung bildet die Übernahme der Entscheidungszuständigkeit durch die europäische Ebene.[225] So führt die Einleitung eines Verfahrens durch die EU-Kommission im Kartellrecht dazu, dass die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden für den konkreten Fall entfällt.[226] In der Bankenaufsicht kann die EZB zur Sicherstellung der kohärenten Anwendung hoher Standards jederzeit beschließen, die direkte Aufsicht auch über nicht als bedeutend eingestufte (und daher zunächst von den nationalen Behörden beaufsichtigte) Banken zu übernehmen.[227]
G. Rechtsschutz im Europäischen Verwaltungsverbund
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Primärrechtsschutz
Das unionale Rechtsschutzsystem im Verwaltungsverbund ist parallel zum Vollzug dualistisch ausgerichtet. Die Rede ist insoweit vom prozessualen Trennungsprinzip,[228] das in Art. 267 AEUV angelegt ist und durch Art. 197 AEUV eine gewisse Bestätigung erfahren hat.[229] Danach sind Kontrollzuständigkeit und Verwerfungsbefugnis grundsätzlich streng den unterschiedlichen Ebenen zugeordnet.[230] Während gegen Maßnahmen der EU-Administration der Rechtsweg zum Gerichtshof der EU eröffnet ist (der nach Maßgabe des Unionsrechts entscheidet), sind Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Behörden vor den nationalen Gerichten anzugreifen.[231] Bei gestuften Verfahren mit Beteiligung sowohl der europäischen als auch der mitgliedstaatlichen Verwaltung kann daher ein gespaltenes Vorgehen angezeigt sein.[232] Hält ein nationales Gericht einen Unionsrechtsakt, auf dem der indirekte Vollzug beruht, für ungültig, muss es den EuGH nach Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV befassen.[233] Umgekehrt sind aber auch die Luxemburger Richter/-innen nicht zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer die EU-Organe bindenden nationalen Handlung berufen. Es ist hier Sache der nationalen Gerichte, effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (ggf. unter Einbeziehung einer EuGH-Vorlage) zu gewährleisten.[234] Diese Verpflichtung soll bei bindenden Zwischenschritten selbst dann bestehen, wenn eine Klage gegen Verfahrensinterna nach nationalem Recht eigentlich nicht vorgesehen ist.[235] Einen Sonderfall bildet schließlich das Phänomen des Vollzugs nationalen Rechts durch Unionsorgane. Sedes materiae ist Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 der SSM-Verordnung (EU) Nr. 1024/2013. Dort wird die EZB bei Wahrnehmung ihrer Aufgaben in der Bankenaufsicht zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften ermächtigt.[236] Für die Kontrolle hieraus resultierender „umgekehrter Vollzugsakte“ lässt sich die Zuständigkeit nicht eindeutig bestimmen.[237] Für eine Kontrolle durch die EU-Gerichte spricht einerseits der Umstand, dass ein europäischer Hoheitsakt den Prüfungsgegenstand darstellt. Andererseits bildet nationales Recht den Prüfungsmaßstab, was zugunsten einer Zuständigkeit der nationalen Gerichte streitet.[238] Bei wertender Betrachtung dürften insbesondere Erwägungen der Rechtssicherheit und -klarheit in Richtung einer alleinigen Kontrollzuständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit weisen.[239]
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Sekundärrechtsschutz
Hinsichtlich des Sekundärrechtsschutzes ist nach Maßgabe des haftungsrechtlichen Trennungsprinzips festzuhalten, dass bei Beteiligung mehrerer Stellen am Erlass einer Entscheidung prinzipiell die materiell verantwortliche Behörde (bzw. deren Rechtsträger/-in) für Schäden einsteht.[240] Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, ob die Stelle auch im Außenverhältnis gehandelt hat. Eine Verantwortung der Union ist daher etwa dann zu bejahen, wenn eine nationale Behörde nach Maßgabe von Weisungen der Kommission tätig geworden ist.[241] Umgekehrt vermag eine unverbindliche Stellungnahme des Unionsorgans grundsätzlich nichts an der primären Verantwortlichkeit der nationalen Behörde für den Vollzug zu ändern.[242] Auch hier kann sich die Grenzziehung freilich als problematisch erweisen.[243] Zu denken ist etwa an Fälle, in denen eine Mitteilung der Kommission trotz fehlender Bindungswirkung geeignet war, das Verhalten der nationalen Stelle zulasten Einzelner zu beeinflussen.[244] Sind Behörden auf Unionsebene wie auf nationaler Ebene für einen Schaden verantwortlich, haften sie im Übrigen nach den Regeln der Gesamtschuld, die als allgemeine Rechtsgrundsätze auch auf EU-Ebene existieren.[245] Einen noch ungelösten Sonderfall stellt auch beim Sekundärrechtsschutz das in der Bankenaufsicht auftretende Phänomen eines „Vollzugs in umgekehrter Richtung“ dar.[246] Bei Abgrenzung der Verantwortungsbereiche des nationalen (Umsetzungs-)Gesetzgebers einerseits und der EZB als Aufsichtsbehörde andererseits stellen sich insoweit Zurechnungsfragen, die über „hergebrachte“ komplexe Kausalverläufe in der Verbundverwaltung hinausweisen. Maßgeblich dürfte sein, inwieweit das Handeln der EZB durch die angewandten nationalen Vorschriften determiniert wird und ob ihr eine Nichtanwendungsbefugnis zukommt.[247]
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Transnationaler Verwaltungsakt
Für den verbundtypischen transnationalen Verwaltungsakt gilt, dass Akte anderer Staaten wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität nicht Gegenstand einer Klage vor einem nationalen Gericht sein können.[248] Folgerichtig ist Rechtsschutz gegen transnationale Verwaltungsakte regelmäßig nur im Erlassstaat zu erlangen.[249] Hiermit korrespondierend können auch Haftungsansprüche für Schäden durch transnationale Verwaltungsakte nach Maßgabe der Schadenszurechnung grundsätzlich nur im Erlassstaat geltend gemacht werden.[250]
H. Fazit und Ausblick
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Fortwährende Herausforderung
Ungeachtet der skizzierten Zurechnungs- und Verantwortungsdiffusionen sowie existierender Rechtsschutzprobleme ist deutlich geworden, dass sich im Bereich der europäischen Verbundverwaltung Strukturen herausgebildet haben, die als Basis für weitere Bemühungen im Streben nach Kohärenz, Konsistenz und Effektivität des europäischen Verwaltungsrechts dienen können.[251] Zentrale Herausforderungen bilden dabei die Herstellung von Transparenz und Verantwortungsklarheit,[252] eine Wahrung der Verfahrensrechte des Einzelnen,[253] die Garantie effektiven Verwaltungsrechtsschutzes,[254] eine Kompensation etwaiger legitimatorischer Defizite des kooperativen Verwaltungshandelns[255] sowie eine Effizienzwahrung trotz erhöhter Zahl der Akteurinnen und Akteure[256].
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Verknüpfung mit der Internationalisierung
Die fortzuführende Systembildung im Recht des Europäischen Verwaltungsverbunds leistet schließlich nicht nur einen Beitrag zur kohärenten und konsistenten Verknüpfung mit dem nationalen Verwaltungsrecht, sondern bietet auch Anknüpfungspunkte für die Fortentwicklung internationaler Verwaltungsrechtsregime.[257] In Teilbereichen (wie bei der Zertifizierung und Akkreditierung[258]) ist es bereits zur Entstehung von Verbundstrukturen gekommen, die mit dem Begriff „internationaler Verwaltungsverbund“ beschrieben werden können.[259] Das dem Europäischen Verwaltungsverbund zugrunde liegende Ordnungskonzept