a) Anwendungsvorrang statt Geltungsvorrang 50, 51
b) Einschränkung des Unanwendbarkeitsdogmas bei indirekten Kollisionen52
c) Nichtigkeitsdogma bei untergesetzlichen Normen53
3. Leistungskonstellation: Pflicht zur positiven Rechtsgestaltung56
4. Ausnahmsweise: Weitergeltung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts57
E. Insbesondere: Nichtanwendungsrecht und -pflicht nationaler Fachgerichte und Behörden58 – 63
I. Unionsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts58 – 62
II. Primärrechtswidrige Sekundärrechtsakte63
F. Einwirkungen des deutschen Rechts auf das Unionsrecht64
G. Aktuelle Entwicklungslinien und Ausblick65 – 68
A. Einleitung
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Selbstständige, aber verzahnte Rechtsordnungen
Die Europäische Union (EU) ist (auch) eine „Rechtsunion“[1]. Ebenso wie ihre Mitgliedstaaten verfügt sie über eine eigene[2] und sich zunehmend ausdifferenzierende Rechtsordnung. Damit existieren im Staaten-, Verfassungs- und Verwaltungsverbund der EU[3] im Ausgangspunkt mehrere Rechtsordnungen nebeneinander (Trennungsprinzip)[4], namentlich das Unionsrecht sowie die nationalen Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten. Diese Rechtsordnungen sind dabei jedoch nicht strikt getrennt, sondern weisen, wie in der Verbundmetapher bereits zum Ausdruck kommt, eine wachsende Zahl von Verzahnungen auf (Verbund- bzw. Kooperationsprinzip).[5] Die seit 70 Jahren fortschreitende europäische Integration hat sogar eine geradezu untrennbare Verschleifung und Verflechtung der Rechtsordnungen bewirkt. Die Vielzahl der nationalen Rechtsordnungen und deren Unterschiede stehen jedoch einer an Freizügigkeit, unverfälschtem Wettbewerb und Einheitlichkeit orientierten EU insofern entgegen, als sie mit der Gefahr der Rechtszersplitterung und Ungleichbehandlung einhergehen. Die Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit (effet utile)[6] und Einheit ihres Rechts ist daher ein Ziel, welches die EU (bzw. ihre Rechtsvorgänger) von Anfang an zentral begleitet hat.[7] Es soll vor allem mit den Instituten der Geltung (dazu B.), unmittelbaren Anwendbarkeit (C.) und des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (D.) ins Werk gesetzt werden.
I. Begriff
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Geltung als Verbindlichkeit
Normen des Unionsrechts gelten in Deutschland als Mitgliedstaat der EU unmittelbar. Das bedeutet, dass sie der in Deutschland geltenden Rechtsordnung zugehörig und damit die in den unionsrechtlichen Normen enthaltenen Rechtsbefehle verbindlich und gegenwärtig sind. Mit anderen Worten erhebt das Unionsrecht eo ipso also nicht nur für die, sondern in den Mitgliedstaaten Anspruch auf Beachtlichkeit.[8] In zeitlicher Hinsicht tritt Geltung in diesem Sinne dabei – unabhängig von der Rechtsform – mit Inkrafttreten ein, dessen Zeitpunkt sich nach den Regelungen des Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3, Abs. 2 UAbs. 2 AEUV bemisst.[9] Ferner muss der Unionsakt wirksam sein. Er darf nicht nichtig[10] oder etwa durch Zeitablauf oder Aufhebung erledigt sein.
II. Reichweite
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Wirksames Unionsrecht
Die unmittelbare Geltung besteht in der Bundesrepublik für das gesamte Unionsrecht. Dazu zählen zuvörderst das Primärrecht – in Gestalt der Europäischen Verträge (EAGV, EUV und AEUV) mitsamt Protokollen und Anhängen (Art. 51 EUV), der Grundrechtecharta (Art. 6 Abs. 1 AEUV) und der allgemeinen Grundsätze (Art. 6 Abs. 3 AEUV) – und das Sekundärrecht[11] in Form von Richtlinien, Verordnungen und Beschlüssen (Art. 288 Abs. 2–4 AEUV). Die unmittelbare Geltung tritt auch dann ein, wenn letztere im Rahmen einer Delegation (Art. 290 Abs. 1 AEUV) oder als Durchführungsrechtsakt (Art. 291 Abs. 2 AEUV) erlassen werden (sog. Tertiärrecht[12]). Daneben nehmen auch die völkerrechtlichen Verträge der EU[13] und Rechtsakte der EU-Organe und sonstigen Stellen, etwa der EZB oder der EU-Agenturen, am Geltungsanspruch teil.
III. Geltungsgrund
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Traditionelle Auffassung: Völkerrechtlicher Geltungsgrund
Die Europäischen (Gründungs-)Verträge sind – bei allen Spezifika der heutigen EU – im Kern völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten.[14] Rechtsprechung und Literatur in Deutschland knüpfen zur Begründung der