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Europäischer Verwaltungsraum
Die Metapher des europäischen Verwaltungsraums wurzelt in den Diskussionen um die mögliche Entstehung eines European Administrative Space.[99] In den Fokus ist diese Entwicklung im Kontext der EU-Osterweiterung geraten.[100] Zum Begriff ist allerdings schon damals kritisch angemerkt worden, dass dieser eine Heterogenität mitgliedstaatlicher Verwaltungsstrukturen, ‑praktiken und -traditionen konzeptionell erfassen müsste, für die es keine annähernde Entsprechung gibt.[101] Zwar weisen Befürworter/-innen der Verwaltungsraumidee auf eine mögliche Öffnung zum sich formierenden internationalen Verwaltungsrecht hin.[102] Nicht zu verkennen ist aber, dass sich der Europäische Verwaltungsverbund aufgrund der Intensität der in ihm existierenden Rechtsbeziehungen von einem solchen globalen Verwaltungsraum[103] erkennbar abgrenzen würde.[104]
C. Funktionen der Verbundverwaltung
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Funktionenvielfalt
Die Funktionenvielfalt der Verbundverwaltung hat sich bereits im Vorschlag einer Typologie unterschiedlicher Verbundsysteme angedeutet.[105] Des Näheren sind fünf Funktionalitäten hervorzuheben, deren Zusammentreffen die Vorzüge einer Verbundverwaltung bündelt.[106] Erstens soll eine wirksame und gleichförmige Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden.[107] Der Leitgedanke einer Steigerung der Effektivität und Einheitlichkeit hat seit dem Vertrag von Lissabon im bereits mehrfach adressierten Art. 197 Abs. 1 AEUV eine explizite Hervorhebung gefunden.[108] Zweitens dient ein Aufbau von Verbundstrukturen der Generierung von Informationen und dem Ausgleich entsprechender Asymmetrien. Durch unionsrechtlich festgelegte Informations-, Berichts- und Beratungspflichten der sachnäheren dezentralen Stellen sowie die Etablierung von Datenbanken und Registern wird den problemferneren zentralen Stellen Wissen vermittelt, welches diese zur Steuerung des unionalen Vollzugs befähigt.[109] Zugleich kann sich ein Informationsaustausch zwischen den nationalen Verwaltungen auch als Voraussetzung für die notwendige nationale Überwachung frei zirkulierender Güter im Binnenmarkt erweisen.[110] Drittens erfordert der Integrationsprozess die Identifikation eines die nationale Ebene übersteigenden öffentlichen Interesses. Der Verwaltungsverbund lässt sich dergestalt auch als Verfahren zur „Einspeisung europäischen Gemeinwohls“ begreifen.[111] Viertens zielt die Verbundverwaltung auf eine wechselseitige Kontrolle des Vollzugs von Unionsrecht.[112] Zum einen werden nationale Durchführungsakte von der Kommission auf unterschiedliche Weise inhaltlich beaufsichtigt. Zum anderen dienen die im Rahmen von Ausschussverfahren integrierte nationale Expertise sowie die Mitwirkung nationaler Stellen in Netzwerken und Agenturen der Begleitung europäischer Durchführungsakte. Hiermit eng verknüpft zielen integrierte Verfahren fünftens auf eine Steigerung der Akzeptanz von Entscheidungen und die Kompensation von Zuständigkeitsverlusten im Mehrebenensystem.[113]
D. Akteurinnen und Akteure der Verbundverwaltung
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Kern-Schalen-Modell
Die Akteursstruktur der Verbundverwaltung lässt sich anhand eines „Kern-Schalen-Modells“ der Europäischen Verwaltung veranschaulichen.[114] Zum „Kern“ zählen neben der Europäischen Kommission (bzw. in den Bereichen Währungsunion und Bankenaufsicht neben der EZB)[115] die nationalen Administrationen. Um dieses Zentrum herum gruppieren sich Ausschüsse (I.), die zur Wahrnehmung spezieller Aufgaben geschaffenen europäischen Ämter und Agenturen (II.) sowie Netzwerke (III.). Ergänzend werden bisweilen auch Private in die Verwaltungsstruktur einbezogen, deren Handlungsspektrum von eher technischen Vollzugsaufgaben bis hin zu selbstregulativen Gestaltungsaufgaben reicht (IV.).
I. Ausschüsse
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Komitologie
Das Ausschusswesen spielt für das praktische Funktionieren der EU eine zentrale Rolle.[116] Als besondere Form der Vernetzung erweist sich die Komitologie.[117] Hierunter ist die Mitwirkung von Ausschüssen nationaler Vertreter/-innen beim Erlass von Durchführungsakten der Kommission zu verstehen. Den Mitgliedstaaten wird dergestalt eine Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeit eingeräumt. Neben Einzelakten erlässt die Kommission im Komitologieverfahren auch abstrakt-generelle Regelungen zur Durchführung von Gesetzgebungsakten. Die einzuhaltenden Verfahren wurden zunächst in zwei Ratsbeschlüssen von 1987 bzw. 1999 definiert.[118] Seit 1. März 2011 setzt die auf Art. 291 Abs. 3 AEUV gestützte Komitologieverordnung (EU) Nr. 182/2011[119] den Rahmen.[120] Unter Bezugnahme hierauf legt der jeweilige Basisrechtsakt Inhalt und Ausmaß der Durchführungsbefugnisse fest und bestimmt das Ausschussverfahren. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Verfahrensarten wurde auf zwei reduziert. Während im Beratungsverfahren eine Pflicht zur Berücksichtigung („soweit wie möglich“) der Stellungnahme des Ausschusses besteht (Art. 4 Abs. 2 VO [EU] Nr. 182/2011), kommt diesem im Prüfverfahren sogar ein Vetorecht (Art. 5 Abs. 3 VO [EU] Nr. 182/2011) zu.[121]
II. Europäische Agenturen und Ämter
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Herausbildung einer Vielzahl von Agenturen
Auf Unionsebene kam es in den letzten Jahrzehnten zur Herausbildung einer Vielzahl dezentralisierter Einrichtungen, die sich als „europäische Ämter und Agenturen“ zusammenfassen lassen.[122] Die durch eigene Rechtspersönlichkeit und ein Mindestmaß an Autonomie gekennzeichneten Agenturen mit operativen Aufgaben[123] basieren auf Unionsrechtsakten und sind formal der europäischen Ebene zuzuordnen.[124] Als Teil der Eigenverwaltung erfüllen sie administrative Regulierungs- oder Exekutivaufgaben im Rahmen einer vertikalen Verwaltungskooperation.[125] Während Exekutivagenturen von der Kommission selbst zur administrativen Durchführung finanzieller Förderprogramme eingesetzt werden,[126] erfolgt die Gründung der unabhängigen Regulierungsagenturen (auch als dezentrale Agenturen bezeichnet) zur Wahrnehmung spezifischer Aufgaben in bestimmten Sektoren.[127] In den Gremien der im wissenschaftlichen Fokus stehenden Regulierungsagenturen wirken neben der Kommission auch nationale Vertreter/-innen (in einem Verwaltungs‑ oder Regulierungsrat) mit.[128] Das Aufgabenspektrum reicht von bloßen Abstimmungs-, Beratungs- und Dokumentationsfunktionen bis hin zu individuell bindenden Verwaltungsentscheidungen oder der Befugnis zur exekutiven Rechtsetzung mit allgemeiner Geltung.[129]
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Meroni-Doktrin, Kompetenzgrundlage und Legitimation
Die Frage nach den rechtlichen Grenzen der Errichtung von (Regulierungs‑)Agenturen wird seit Beginn des Integrationsprozesses diskutiert. Mit Blick auf das institutionelle Gleichgewicht kommt eine Delegation von Ausführungsbefugnissen nach der sog. Meroni-Doktrin nur in Betracht, wenn diese „genau umgrenzt“ sind und unter der Aufsicht des jeweiligen EU-Organs stehen.[130] A priori ausgeschlossen ist die Übertragung „weitreichende[r] Ermessensspielräume“ mit politischem Charakter. Daneben hat der Gerichtshof in kompetenzrechtlicher Perspektive wiederholt anerkannt, dass (neben Art. 352 AEUV) auch Art. 114 AEUV eine taugliche Basis zur Schaffung supranationaler Agenturen bilden kann.[131]