Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Diemer
Издательство: Bookwire
Серия: Heidelberger Kommentar
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783811407299
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wiederholter strafbarer Verhaltensweisen (§ 11 DE-JHG 1973). Der Diskussionsentwurf, der auf den von Karl Peters 1965 auf dem Jugendgerichtstag in Münster unterbreiteten Vorschlägen für ein erweitertes Jugendhilferecht und der von der Arbeiterwohlfahrt 1970 erarbeiteten Stellungnahme beruhte, wurde 1974 durch einen Referentenentwurf abgelöst, der das strafrechtsersetzende Konzept schon nicht mehr weiterverfolgte (vgl. allgemein zu den Möglichkeiten der Jugendhilfe zur Einschränkung jugendstrafrechtlicher Konfliktlösungen: Müller-Dietz in: FS Pongratz, 1986, S. 102). Das Bundesministerium der Justiz hat auf eine Große Anfrage zur Reform des Jugendgerichtsverfahrens im Dezember 1986 erklärt, dass an eine Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf die Vollendung des 16. Lebensjahres nicht gedacht sei (BT-Drucks. 10/6739, 28).

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      Denkbar wäre auch eine Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeitsgrenze auf 16 Jahre. Bestrafungsmündigkeit ist der gegenüber der Strafmündigkeit engere Begriff, der festlegt, von welchem Alter an Jugendstrafe verhängt und vollzogen werden darf. Die Konferenz der Jugendminister und -senatoren hatte 1980 beschlossen, wenn schon nicht die Strafmündigkeits- so doch wenigstens die Bestrafungsmündigkeitsgrenze anzuheben, um 14- und 15-Jährige aus dem Vollzug herauszunehmen – eine Forderung, die von der Konferenz der Justizminister und -senatoren 1981 einstimmig abgelehnt worden ist. Eine auch als Folge dieser Kontroverse vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegebene Studie zur tatsächlichen Situation der genannten Altersgruppe im Strafvollzug führte zu folgendem Ergebnis:

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      „Wollte man die Gruppe der 14- bis 16-Jährigen aus dem Strafvollzug herausnehmen, so wäre es notwendig, zeitlich und lokal vor den Mauern ein Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung zu stellen, das mit nichtrepressiven Methoden den Jugendlichen reale Lebensmöglichkeiten eröffnet und gleichzeitig zum Abbau überindividueller kriminogener bzw. kriminalisierender Strukturen beiträgt. Bleiben Alternativen hinter diesen grob skizzierten Minimalforderungen zurück, so werden nach unserer Ansicht die 14- bis 15-jährigen Strafgefangenen die jüngsten und zugleich hoffnungslosesten Rekrutierungsjahrgänge für den Fortbestand gesellschaftlich produzierter Abweichungen bleiben“ (P.A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an 14- und 15-Jährigen, 1983, S. 16).

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      Der Gesetzgeber hat bisher nur zögerlich reagiert, immerhin aber im 1. JGG-ÄndG 1990 den Ausbau informeller Erledigungsmöglichkeiten und die Ersetzung stationärer Sanktionen durch neue ambulante Maßnahmen ermöglicht. Die Schaffung eines eigenständigen Jugendkonfliktrechts und eines Jungtäterstrafrechtes für die Altersgruppe von 18-25 (oder 27) Jahren (dazu Asbrock ZRP 1977, 191) werden auf der Gesetzgebungsebene gegenwärtig aber nicht diskutiert. Zu neueren Reformvorschlägen vgl. die Ergebnisse des Regensburger Jugendgerichtstages (DVJJ-J 1992, 271; zur DVJJ-Kommission 1992, 4) und AWO 1993 (NK 1994, 28 – Frommel/Maelicke) sowie das Gutachten von H. J. Albrecht zum 64. DJT 2002 und die Vorschläge der Zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, DVJJ-Extra Nr. 5, 2002.

      In der 17. Legislaturperiode sind die seit dem 1.1.2011 geltende Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 (in Kraft seit 1.6.2013) verabschiedet worden. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, sind auch die Erhöhung der Jugendstrafe auf 15 Jahre für Heranwachsende bei Mord wegen der besonderen Schwere der Schuld, der „Warnschussarrest“ (Jugendarrest neben der Aussetzung der Verhängung oder Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung) und die Vorbewährung im Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012 verankert worden (zu verfassungsrechtlichen und systematischen Bedenken sowie zu Lösungsmöglichkeiten Radtke ZStW 2009, 416–449 sowie einerseits Müller-Piepenkötter/Kubink ZRP 2008, 176–180 und andererseits Verrel/Käufl NStZ 2008, 177–181 sowie Breymann/Sonnen NStZ 2005, 669–673).

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      Da es auch zukünftig keinen eigenständigen Deliktskatalog gibt, stellt sich das Problem einer jugendgemäßen Gesetzesinterpretation. Ostendorf hat in diesem Zusammenhang drei Tatbestandsgruppen genannt:

Tatbestände, die von Jugendlichen und Heranwachsenden generell nicht verstanden werden (z.B. Einsatz einer Spielzeugpistole als Qualifikationstatbestand – §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b), 250 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b) StGB; der selbst ausgefüllte Entschuldigungszettel als Urkundsdelikt; das Auswechseln des Kettenritzels zur Geschwindigkeitserhöhung als Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz und die Abgabenordnung),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht passen (z.B. Gruppendelikte als Bandendiebstahl oder Bandenraub),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht notwendig sind, z.B. Schwarzfahren, Mofa-Frisieren, Ladendiebstahl im Bagatellbereich.

      (BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 325, 332 ff.); zum Verhältnis von Gruppendynamik und Jugendstrafrecht: Hoffmann StV 2001, 196 ff.

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      Gegen eine jugendspezifische Tatbestandsauslegung werden unter dem Aspekt von Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Berechenbarkeit sowie Gleichbehandlung Bedenken geäußert (Brunner/Dölling § 2 Rn. 7), die jedoch nicht berücksichtigen, dass eine teleologische Interpretation und daraus resultierende Tatbestandsreduktion verfassungsmäßig zulässig sind. Dies gilt jedoch nur für eine Gesetzesauslegung zu Gunsten Jugendlicher. Eine Schlechterstellung gegenüber Erwachsenen ist nicht zulässig (BayObLG DVJJ-J 1993, 79 = StV 1992, 433 = NStZ 1991, 584 m. Anm. Scheffler NStZ 1992, 491; Albrecht 2000, 83; Bohnert NJW 1980, 1930; Bottke ZStW 95 (1983), 80; Dünkel ZStW 105 (1993), 139; a.A. § 55 Rn. 7).

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      Praxisbeispiele für die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation sind:

Der 14-jährige T hat seine 13-jährige Klassenkameradin so geküsst, dass ein „Knutschfleck“ deutlich sichtbar blieb und ihr mehrfach mit seinen Händen an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen. Trotz „gegenseitiger Zuneigung“ ist er vom AG Arnstadt am 1.11.2011 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB verwarnt und zu 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden (zur DNA-Identitätsfeststellung bei jugendtypischer Sexualstraftat in diesem Fall = BVerfG Beschl. v. 2.7.2013 – 2 BvR 2392/12, StV 2014, 578, 579).
Die Verurteilung eines 15-Jährigen wegen sexueller Beziehungen zu seiner 13-jährigen Freundin nach § 176 StGB zu Jugendstrafe (berichtet von Böhm/Feuerhelm S. 39, die vorschlagen, in solchen Fällen eine Verurteilung über die Anwendung von § 3 oder § 17 StGB zu vermeiden).
Wegnahme einer typischen Skinhead-Jacke gegenüber einem nicht zur Gruppe gehörenden Opfer (Verneinung der Zueignungsabsicht: AG Berlin-Tiergarten vom 7.11.1988, berichtet von Eisenberg § 1 Rn. 24c.
Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes (BGH NStZ 1983, 365; NStZ 1986, 549; StV 1997, 8; NStZ 2003, 369; StV 2004, 74; NStZ 2008, 94 – Eisenberg/Schmitz; NStZ-RR 2008, 370 u. BGH ZJJ 2010, 326 m. Anm. Eisenberg; NStZ 2013, 538: (äußerst) gefährliche Gewalttaten können einen Schluss von der obj. Gefährlichkeit auf einen bedingten Tötungsvorsatz ermöglichen. Bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlung, kann jedoch aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht ohne eine Gesamtwürdigung von tat- und täterbezogenen

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