Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Diemer
Издательство: Bookwire
Серия: Heidelberger Kommentar
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783811407299
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Eine gelingende soziale Integration ist der beste Schutz potentieller Opfer und wird der Sicherungsaufgabe als Hauptziel neben der Erziehung gerecht. Für die Gesellschaft ergibt sich die Verpflichtung, für die Sozialisation junger Menschen Rücksicht auf ihre noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu nehmen und bei den Rechtsfolgen sich an den Grundsätzen von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu weniger ausgrenzenden Reaktionsformen zu orientieren wie Jugendhilfe vor Strafrecht, informell statt formell, ambulant statt stationär. Für Jugendliche und Heranwachsende geht es darum, Verantwortung zu übernehmen auf dem Weg zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Das Leitprinzip „Verantwortung“ gilt insoweit doppelt (Streng § 1 Rn. 23) und gehört für Rössner zum Aufgabenfeld des Normenlernens. Die Einschränkung, „vor allem“ erneuten Straftaten entgegen zu wirken in Satz 1, erlaubt bei der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld auch Aspekte des Schuldausgleichs zu berücksichtigen, ohne die erzieherische Orientierung ganz aus der Zumessung zu verbannen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 2 ist die negative Generalprävention als Nebenziel ausgeschlossen und die positive Generalprävention zwar kein Nebenziel, wohl aber ein erwünschter Nebeneffekt.

      Die Mittel zur Zielerreichung sind nach Satz 2 „vorrangig“ am Erziehungsgedanken auszurichten, gemeint als empirisch gesicherte Erkenntnisse kriminologischer, pädagogischer, jugendpsychologischer und anderer fachlicher Forschung, zugleich als Ergänzung zu § 37 bei der Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte gedacht (BT-Drucks. 16/6293, 10). Der Erziehungsbegriff orientiert sich an interdisziplinären Erkenntnissen zur Sozialisation junger Menschen im Teilbereich der sozialen Kontrolle und an der Wirklichkeit des Normlernens (Rössner a.a.O., § 1 Rn. 15 und 17:

      „Jugendstrafrecht ist zu beschreiben als staatliche Institution des Normlernens, die erzieherische und sanktionierende Mittel unter Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Formen der sozialen Kontrolle einsetzt und so in das Gesamtgeschehen des sozialen Normlernens eingebunden ist“). Nur der weite Erziehungsbegriff werde der „Multifunktionalität“ gerecht und könne das sozialpädagogische Potential des Jugendhilferechts gemäß §§ 3 S. 2, 12, 38 Abs. 2, 45 Abs. 2 S. 1 berücksichtigen (Vorgabe der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Sanktionen).

      Allg. zum Erziehungsgedanken: Cornel Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Historische Entwicklungen in: Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität, 2018, 533; Pieplow Erziehungsgedanke – noch einer, in: GS Walter 2014, S. 341-357; ders. Erziehung als Chiffre, in: Walter (Hrsg.), Beiträge zur Erziehung im Jugendstrafrecht, 1989, 511; ders. Der Erziehungsgedanke im Jugendgerichtsgesetz – Einführung zu Francke (1927), ZJJ 2018, 48-56. Schrapper L. Zum Verhältnis von Erziehung und Strafe – 15 Thesen, ZJJ 3/2014, 285-288; Schwerpunkt Erziehen und Strafen, ZJJ 1/2014.

      Hinsichtlich eines erzieherisch gestalteten Jugendstrafverfahrens ist das elterliche Erziehungsrecht zu beachten. Erzieherische Möglichkeiten mit zwingendem Charakter dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen das Elternrecht nicht zurückdrängen. Allerdings sind die Elternrechte durch die Verpflichtung zur Rechtstreue begrenzt. Wird das Wohl des Kindes gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder in der Lage, die Gefahr abzuwenden, trifft das Familiengericht gem. § 1666 BGB die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr. Art und Ausmaß des zulässigen Eingriffs bestimmen sich danach, was im Interesse des Kindes geboten ist (BVerfGE 24, 119 [145] = NJW 1968, 2233); zudem kann die Ausübung des Elternrechts durch den Staat – soweit die Wahrnehmung von Erziehungsrechten in einem Jugendstrafverfahren betroffen ist – auch zum Schutz kollidierender Grundrechte Dritter sowie anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung begrenzt werden (BVerfGE 107, 104 [118] = NJW 2003, 2004); zur Durchsetzung dieser Verfassungsaufgabe (BVerfGE 107, 104 [119] = NJW 2003, 2004) ist die staatliche Strafrechtspflege grundsätzlich nicht gehindert, auch in das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen (RhPfVerfGH Beschl. v. 13.7.2012 – VGH B 10/12 = FPR 2013, 447).

      § 2 Abs. 1 beschränkt sich nicht auf normative Erwägungen, sondern verlangt in erster Linie empirische Einschätzungen und die Berücksichtigung gesicherter empirischer Erkenntnisse der kriminologischen Sanktionsforschung. Die Vorschrift steht insoweit in Zusammenhang mit dem kriminologischen, soziologischen, pädagogischen und jugendpsychologischen Anforderungsprofil in § 37 für Juristinnen und Juristen in der Jugendgerichtsbarkeit. (Größere Verbindlichkeit war geplant in § 37 JGG-E im RE „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellem Missbrauchs [StORMG]“ v. 7.12.2010, aber nicht Gesetz geworden). Es bleibt aber die Pflicht, Wirkungszusammenhänge zu berücksichtigen und empirisch gesicherte Einschätzungen in den Vordergrund der Beantwortung der Frage zu stellen, was der Zielerreichung der Legalbewährung dient (BT-Drucks. 16/6293, 10). Schlagwortartig geht es um eine „sozialintegrative“ und „evidenz-basierte Orientierung“ der Anwendung des Jugendstrafrechts in (J)Strafverfahren.

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      Die Vorschrift gilt für die Strafverfolgung von Jugendlichen und Heranwachsenden, und zwar sowohl vor Jugendgerichten als auch vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§§ 104 Abs. 1 Nr. 1, 112). § 2 Abs. 2 korrespondiert mit § 10 StGB, nach dem für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden das StGB nur gilt, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Es geht um die Abgrenzung zwischen dem Sonderstrafrecht für junge Menschen und dem allgemeinen Strafrecht. Ziel der Vorschrift ist insoweit die Klarstellung und zugleich die Sicherung des Vorranges der Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende.

II. Vorrangige Sondervorschriften des JGG

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      Auf der Ebene der Straftatvoraussetzungen stellt § 3 JGG die einzige Sondervorschrift gegenüber dem allgemeinen Strafrecht dar. Danach ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher positiv festzustellen. Mangels Sonderregelungen bleiben die Tatbestände des BT des StGB und aus dem AT die Abschnitte 1, 2, 4 und 5, die das Strafgesetz, die Tat, Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen und Verjährung betreffen, anwendbar, ausgenommen ist also nur der 3. Abschnitt zu den Rechtsfolgen der Tat.

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      Auf dieser Ebene wird besonders deutlich, wie wenig der Gesetzgeber Chancen für Reformmöglichkeiten genutzt hat. Hier setzt die Kritik an der Flucht in das Verfahrens- und Sanktionenrecht an (Ostendorf in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 331). Die Schaffung neuer Sondervorschriften im JGG würde die Anwendung des allgemeinen, mitunter nicht jugendgemäßen Strafrechts zurückdrängen. Denkbar wäre eine Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze von 14 auf 16 oder gar 18 Jahre. Nach dem 1973 vorgelegten Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes sollte ausgehend von der Überlegung, dass eine Unterscheidung zwischen Jugendverwahrlosung (Dissozialität) und Jugendkriminalität (Delinquenz) angesichts vergleichbarer Entstehungszusammenhänge nicht gerechtfertigt erscheint, bei den unter 16-Jährigen auf den Einsatz von (Jugend-)Strafrecht zu Gunsten eines ausschließlich am Erziehungsgedanken orientierten neuen und erweiterten Jugendhilfegesetzes verzichtet werden. Auch bei Straftaten in der Altersgruppe der 16- bis unter 18-Jährigen war nur ausnahmsweise die Anwendung des JGG vorgesehen, und zwar bei bevorstehender oder inzwischen erreichter Volljährigkeit, bei Verfehlungen, die nach dem allgemeinen Strafrecht mit Freiheitsstrafe