a) Geschichte
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Die Entstehungsgeschichte der Mordvorschrift ist Teil der Entstehungsgeschichte der Tötungsdelikte allgemein (dazu bereits oben Rn. 1). Mord ist seit dem Reichsstrafgesetzbuch im Jahr 1871 in § 211 StGB normiert. Der Tatbestand hatte ursprünglich eine vollkommen andere Gestalt als der heute geltende § 211 StGB. Als Mord bezeichnete das Gesetz die „mit Überlegung“ begangene Tötung:[67] „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“[68] Vorbild war der französische Code pénal, der auch heute noch einen Mordtatbestand („assassinat“, Art. 221-3 C.P.) enthält, der durch Tötung „avec préméditation“ gekennzeichnet ist. Auffallend beim Vergleich des § 211 StGB von 1871 mit der aktuellen Fassung ist neben der Unterschiedlichkeit der Mordmerkmale die tatbezogene Formulierung in dem früheren Gesetz: „wegen Mordes“ und nicht – wie jetzt noch immer – „Mörder“. Der Wandel des Sprachstils zu einer täterstrafrechtlichen Normgestaltung wurde mit der Neufassung des § 211 StGB im Jahr 1941 vollzogen. Die nationalsozialistischer Strafrechtsideologie immanente „Tätertypenlehre“ fand in der täterzentrierten Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen von Mord und Totschlag Ausdruck: „Mörder“, „Totschläger“.[69] Das Mordmerkmal „mit Überlegung“ wurde durch eine Kasuistik heterogener motiv-, tatausführungs- und absichtsbezogener Mordmerkmale ersetzt. Dabei konnten sich die Nationalsozialisten zum großen Teil auf ältere Entwürfe rückbeziehen.[70] Originär nationalsozialistische Strafrechtsschöpfung sind die fragwürdigen „niedrigen Beweggründe“.[71] In einem neuen Absatz 3 wurde für „besondere Ausnahmefälle“, in denen die Todesstrafe als nicht angemessen erscheint, das Strafmaß auf lebenslange Zuchthausstrafe reduziert. Mit der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG im Jahr 1949 war diese Milderung obsolet geworden und wurde daher im Jahr 1953 aufgehoben. Im Jahr 1977 befasste sich das Bundesverfassungsgericht anlässlich eines konkreten Normenkontrollantrags des LG Verden mit der Verfassungsmäßigkeit des § 211 StGB. Da die Entscheidung der Norm im Ergebnis Grundgesetzkonformität attestierte, gab es für den Gesetzgeber keine Veranlassung zu Änderungen auf der Tatbestandsseite der Mordvorschrift. Auch die absolute lebenslange Freiheitsstrafe blieb unangetastet. Vollstreckungsrechtlich wurde der Absolutheitscharakter durch Einführung der §§ 57a, 57b StGB abgeschwächt. Unberührt blieb § 211 StGB vom 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, das in anderen Bereichen des Besonderen Teils erhebliche Änderungen brachte. In den Jahren 2014 bis 2017 bemühte sich der Bundesjustizminister Heiko Maas um eine Reform der Tötungsdelikte – letztlich ohne Erfolg (siehe oben Rn. 2 ff.).[72]
b) Reformbestrebungen
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Während in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland seit der Nachkriegszeit bis heute von ernsthaften Problemen bei der Anwendung des Mordparagraphen aus dem Jahr 1941 nicht berichtet wird, wurde in der Strafrechtswissenschaft die Regelung permanent kritisiert und ihre Reformierung gefordert. Ein Höhepunkt der Reformdebatte ohne legislative Folgen war die Befassung des 53. Deutschen Juristentages im Jahr 1980 mit dem Thema „Reform der Tötungsdelikte“. Auf das Referat von Albin Eser bezieht sich noch heute jeder, der sich mit Vorschlägen zur Neuregelung des Tötungsstrafrechts befasst. Der letzte große Anlauf zu einer Reform im Jahr 2014 brachte neben vielen Fachbeiträgen in Print- und online-Medien einen voluminösen Abschlussbericht einer hochkarätig besetzten vielköpfigen Expertengruppe hervor. Die Politik vermochte die Anregungen jedoch nicht vor dem Ende der 18. Legislaturperiode umzusetzen (siehe oben Rn. 2 ff.).
c) Verhältnis zum Totschlag
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Der Tatbestand des Mordes enthält sämtliche objektiven und subjektiven Merkmale des Totschlags. Den Unterschied der beiden Verbrechen machen die Mordmerkmale des § 211 Abs. 2 StGB aus. Erfüllt der Täter einer vorsätzlichen Tötung ein Mordmerkmal, begeht er einen Mord. Ohne die Erfüllung des Mordmerkmals ist die Tat Totschlag. Diese Zusammenhänge sind typisch für das systematische Verhältnis zwischen einem Grundtatbestand und einem Qualifikationstatbestand, wie z.B. bei § 223 und § 224 StGB[73] oder § 242 und § 244 StGB[74]. Der Qualifikationstatbestand enthält sämtliche Merkmale des Grundtatbestandes sowie noch wenigstens ein weiteres Merkmal.[75] Legt man dieses Schema dem Verhältnis von § 211 zu § 212 StGB zugrunde, ist Totschlag der Grundtatbestand und Mord der Qualifikationstatbestand.[76] Dennoch weigert sich die Rechtsprechung, Totschlag als Grundtatbestand und Mord als qualifizierten Totschlagstatbestand anzuerkennen. So definiert die Strafrechtslehre das Verhältnis zwischen Mord und Totschlag. Danach ist Mord im Verhältnis zum Totschlag ein wesensgleiches plus, umgekehrt Totschlag im Verhältnis zum Mord ein wesensgleiches minus. Nach der Rechtsprechung hingegen ist Mord ein aliud im Verhältnis zum Totschlag. Konsequenzen hat dieser Meinungsstreit in Bezug auf die Anwendung des § 28 StGB in Fällen, in denen an der Tat mehrere Personen beteiligt sind und die Erfüllung des Mordtatbestandes auf der Erfüllung eines personenbezogenen Mordmerkmals – z.B. Habgier – beruht. Soweit in diesem Fall nicht ohnehin § 29 StGB statt § 28 StGB angewandt wird, streiten sich Rechtsprechung und Literatur über die Einschlägigkeit des Absatzes 1 oder des Absatzes 2 des § 28 StGB. Die Rechtsprechung wendet § 28 Abs. 1 StGB an. Das hat zur Folge, dass ein Teilnehmer, der selbst die Voraussetzungen eines personbezogenen Mordmerkmals nicht erfüllt – z.B. nicht aus Habgier handelt – aus § 211 StGB strafbar ist, sofern der Täter das personbezogene Mordmerkmal erfüllt. Nach der Literatur, die § 28 Abs. 2 StGB anwendet, ist der Teilnehmer hingegen wegen Teilnahme am Totschlag strafbar. Konsequenz der Literaturansicht ist des Weiteren, dass ein Teilnehmer, der z.B. aus Habgier an der Tötung teilnimmt, auch dann wegen Teilnahme am Mord strafbar ist, wenn der Täter das personbezogene Mordmerkmal nicht erfüllt, also z.B. nicht